Die Grenzen militärischer Gewalt

Wenn politische und militärische Macht nicht der Selbstverteidigung dient, sondern Probleme niedergeknüppelt werden, wird die selbstverschuldete Katastrophe vor der Küste von Gaza nicht die letzte gewesen sein.

Von Amos Oz
Amos Oz; Foto: dpa
Plädoyer für politische Kompromissbereitschaft und friedliche Koexistenz im Zusammenleben mit den Palästinensern im Westjordanland: der israelische Schriftsteller Amos Oz

​​Zweitausend Jahre lang kannten die Juden Gewalt nur von Peitschenschlägen am eigenen Leibe. Doch bereits seit mehreren Jahrzehnten sind wir selbst in der Lage, mit harter Hand auszuteilen. Diese Kraft hat uns schon so manches Mal berauscht. Immer wieder glauben wir, wir könnten alle Probleme mit Stärke aus dem Weg räumen. Wer nur einen Hammer hat, sagt ein Sprichwort, für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus.

Ein Großteil der jüdischen Bevölkerung in Palästina hatte vor der Gründung des Staates Israel kein Gespür für die Grenzen der Gewalt. Sie schien ein Mittel, mit dem jedes beliebige Ziel erreicht werden konnte.

Gewalt – und noch mehr Gewalt

Zum Glück wussten Staatsmänner wie David Ben-Gurion oder Levi Eschkol in Israels frühen Jahren durchaus, dass Stärke durchaus ihre Grenzen hat. Und sie achteten darauf, diese Grenzen nicht zu überschreiten. Doch seit dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 ist Israel auf militärische Stärke fixiert. Das Mantra lautet: Was man mit Gewalt nicht schafft, schafft man mit noch mehr Gewalt.

​​Zu den Auswüchsen, die ein solches Denken zur Folge hat, gehört die Belagerung des Gazastreifens. Sie beruht auf der falschen Annahme, die Hamas ließe sich mit Waffengewalt besiegen – oder allgemeiner formuliert: man könnte das Palästina-Problem niederknüppeln, anstatt es zu lösen.

Aber die Hamas ist mehr als nur eine Terrororganisation. Sie ist eine Idee. Eine verzweifelte und fanatische Idee, entstanden aus Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung. Noch nie ist eine Idee von Gewalt besiegt worden – nicht von Besatzern, nicht von Bomben, nicht von Panzerketten und auch nicht von Marineeinheiten. Um eine Idee zu besiegen, braucht man eine bessere Idee, eine attraktivere und akzeptablere.

Strategien für den Frieden

Um die Hamas ins Abseits zu drängen, müsste Israel sich mit den Palästinensern möglichst rasch auf einen unabhängigen Staat im Westjordanland und im Gazastreifen einigen, in den Grenzen von 1967, mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Israel müsste ein Friedensabkommen mit der Regierung von Mahmud Abbas schließen, um den Palästina-Konflikt auf einen zwischen Israel und dem Gazastreifen zu reduzieren.

​​Letzterer könnte dann durch Verhandlungen mit der Hamas beigelegt werden – oder, was vernünftiger scheint, durch eine Zusammenführung der von Abbas geführten Fatah-Partei mit der Hamas.

Andernfalls könnte Israel noch Hunderte von Schiffen auf dem Weg nach Gaza in Beschlag nehmen oder noch hundertmal so viele Soldaten in die besetzten Gebiete schicken; es könnte seine militärischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Anstrengungen unendlich vervielfachen - und hätte doch das Problem nicht gelöst.

"Wir sind nicht allein in diesem Land"

Denn das Problem besteht darin, dass wir in diesem Land eben nicht alleine sind. Genauso wenig wie die Palästinenser. Wir sind nicht alleine in Jerusalem. Genauso wenig wie die Palästinenser. So lange wir als Israelis und Palästinenser die logischen Folgen dieses einfachen Umstands nicht anerkennen, werden wir weiterhin im permanenten Belagerungszustand leben – in Gaza unter israelischer, in Israel unter internationaler und arabischer Belagerung.

Ich will die Bedeutung militärischer Stärke nicht kleinreden. Israels militärische Stärke ist für das Land lebenswichtig. Ohne sie würden wir den nächsten Tag nicht überleben. Wehe dem Land, das die Wirkung solcher Stärke gering schätzt.

Aber wir dürfen niemals auch nur für einen Augenblick vergessen, dass diese Macht nur vorbeugende Wirkung haben soll: Sie soll Israel davor bewahren, zerstört und erobert zu werden, sie soll unser Leben und unsere Freiheit schützen.

Wenn Stärke nicht präventiv wirken soll, wenn sie nicht der Selbstverteidigung dient, sondern vielmehr Probleme niedergeknüppelt und Ideen zerschlagen werden, wird die selbstverschuldete Katastrophe auf hoher See, in internationalen Gewässern vor der Küste von Gaza, nicht die letzte gewesen sein.

Amos Oz

© Amos Oz 2010

Aus dem Englischen von Ilja Braun

Der israelische Schriftsteller Amos Oz, geboren 1939, veröffentlichte auf Deutsch zuletzt „Geschichten aus Tel-Ilan“.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

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