Wegweiser in der Welt der Religionen
Irgendwann als junger Katholik hat sich Klaus von Stosch gefragt: Wie würde ich glauben, wenn ich in Indien aufgewachsen wäre, als Muslim oder Hindu? Denn da war nicht nur der eigene, "zutiefst stimmig empfundene" christliche Glaube, sondern auch der marokkanische Schwager: Der gläubige Muslim, Ehemann von Stoschs Schwester, habe ihn ungeheuer fasziniert, erinnert sich der Paderborner Theologieprofessor heute. "Da war dann gleich die Frage: Wie ist das für Menschen in anderen Kulturen? Und wie geht beides zusammen: Meine Wahrheit und ihre?"
Solche Fragen stellen, in einfacheren Worten, heute schon Grundschulkinder, wenn sie erleben, dass ihre muslimischen Freunde am Zuckerfest schulfrei haben und Weihnachten nicht feiern. Es sind zugleich die Kernfragen, mit denen sich von Stosch heute wissenschaftlich beschäftigt: am "Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften" (ZeKK) der Universität Paderborn.
Die Komparative Theologie (KT), eine im deutschsprachigen Raum noch junge Strömung der Religionstheologie, sucht christliche Antworten auf den pluralen Alltag moderner Gesellschaften. Sie sucht Wege, wie Christen andere religiöse Überzeugungen wertschätzen können, ohne dabei die eigenen aufzugeben. Ein "Wegweiser in der Welt der Religionen" sei die KT, schreibt Stosch in seinem neuen Grundlagenwerk. Nicht gerade ein bescheidener Anspruch.
Gastvorlesungen in Ghom
Von Stosch ist hierzulande der wichtigste Vertreter der KT, er arbeitet eng vor allem mit muslimischen Theologen zusammen. Im Herbst hat er vor schiitischen Studierenden im iranischen Ghom Gastvorlesungen in christlicher Theologie gehalten. Im Januar war er mit dem Münsteraner islamischen Religionspädagogen Mouhanad Khorchide an der Jerusalemer Dormitio-Abtei der Benediktiner zu Gast.
Thema des einwöchigen Workshops: Eschatologische Konzepte im Islam und im Christentum. Gewaltvorstellungen in Bibel und Koran standen in diesem März auf dem Programm einer Tagung in Schwerte, die sein Zentrum zusammen mit dem Zentrum für Islamische Theologie Münster und der Mercator-Stiftung ausrichtet.
Aus der Aktualität der Themen spricht das Ziel, Bedürfnissen der Zeit gerecht zu werden: Stosch sieht in der Neubestimmung des Verhältnisses des Christentums zu anderen Religionen die "derzeit größte Herausforderung für die christliche Theologie überhaupt" und eine gesellschaftliche Notwendigkeit.
Durch das immer engere Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen werde die Konfrontation mit anderem Glauben alltäglich. Deshalb müsse die Theologie "Pazifierungspotenziale von Religionen stärken", sagt Stosch: "Sie muss dazu beitragen, dass wir unsere Identitäten nicht in Abgrenzung von anderen, sondern im Dialog mit ihnen finden."
Auf der Suche nach interreligiösen Verwandtschaften
Wie aber schafft die Komparative Theologie das? "Sie geht vom Eigenen aus, bemüht sich aber, den Blick auf das Eigene vom anderen aus in die eigene Theologie einzubeziehen", schreibt von Stosch. Wer Komparative Theologie treiben will, sollte also im Idealfall nicht nur die eigene, sondern auch die andere Theologie studiert haben. Von Stosch fordert eine Haltung intellektueller Gastfreundschaft: "Es geht darum, der anderen einen Ort in meinem Denken einzuräumen, … in die fremde Welt der anderen hineinzufinden, um sich von den dort gefundenen Wahrheiten verwandeln und bereichern zu lassen."
Die KT darf von Stosch zufolge kein neues Fach im vorhandenen Fächerkanon sein, sondern muss zur Querschnittsaufgabe aller theologischen Disziplinen werden. Nur so könne sich die christliche Theologie insgesamt neu ausrichten. Methodisch setzt er auf mikrologische Vergleiche einzelner Themen, um interreligiöse Verwandtschaften aufzuspüren.
Zum Beispiel die Trinität. Auf den ersten Blick muss der christlich-trinitarische Gott ein Tabu sein für Muslime, die ein radikal monotheistisches Gottesbild haben: "Sprich: Er ist Gott, einzig, Gott der Absolute, Er zeugt nicht und wurde nicht gezeugt, Und keiner ist ihm gleich", heißt es in Sure 112.
Umgekehrt haben christliche Theologen hier immer wieder den Grund für die Überlegenheit des Christentums gesehen: Weil der Gott der Muslime in seinem Wesen nicht als Beziehung denkbar sei, so der Vorwurf an den Islam, könne er auch nicht wesenhaft ein Gott der Liebe sein. Damit habe Vielfalt theologisch keinen Platz in Allah und sei somit als Anspruch an islamische Gesellschaften nicht religiös zu begründen.
Allah als menschenferner Gott?
Die KT geht offener auf die Geisteswelt der anderen zu. An Stoschs Lehrstuhl forscht eine muslimische Mitarbeiterin über befreiungstheologische Traditionen im Christentum und Islam, und sie stieß dabei auf etwas, das eine islamische Analogie zum christlichen Trinitätsgedanken sein könnte: die Rede von den 99 Namen Gottes im Koran und der islamischen Tradition. Die Gottesnamen sind oft als Gegensätze angelegt, zum Beispiel "der Erste" und "der Letzte", der "Offenbarer", "der Verborgene".
Stosch sieht darin ein "funktionales Äquivalent im Islam, einen Weg für Muslime, Vielfalt in Einheit wahrzunehmen". Aber, betont er: "Das heißt nicht, dass man streiten muss, wer recht hat."
Noch ein Beispiel: die Offenbarung. Von Stosch sieht auch hier auf christlicher Seite Unterstellungen gegenüber dem Islam am Werk. In denen erscheint Allah als ein menschenferner Gott, der im Koran nur seinen Willen, nicht sich selbst offenbart – während Christen an den Gott der Liebe glauben dürften, der sich in seiner Menschwerdung selbst preisgibt.
Moderne Ansätze der islamischen Theologie zeichnen ein anderes Bild. So entfaltet der Münsteraner Islamprofessor Khorchide eine regelrechte Offenbarungstheologie der Barmherzigkeit. 598-mal wird Gott im Koran als barmherzig, Allerbarmer und ähnlich beschrieben – damit werde diese "Selbstbeschreibung Gottes" zu seiner herausragenden Wesenseigenschaft.
"Seine Barmherzigkeit hat Gott nicht nur im Wort, im Koran, offenbart, sondern in der Schöpfung selbst", sagte Khorchide in einem Vortrag beim Papstbesuch 2011 in Berlin und zitierte Sure 30, Vers 50: "Schau doch auf die Spuren der Barmherzigkeit Gottes! Schau wie er die Erde wieder belebt, nachdem sie abgestorben war." Der Religionspädagoge erkennt hier ein "dialogisches Verständnis" von Gott: "Gott, christlich gesprochen, als die Liebe und islamisch gesprochen als die Barmherzigkeit, offenbart sich also in der erfahrbaren und gelebten Liebe und Barmherzigkeit hier und jetzt in dieser Welt."
Solche Gemeinsamkeiten will die Komparative Theologie herausarbeiten – ohne Gleichmacherei zu betreiben. Immer geht es darum, konkrete Verständigungen über Religionsgrenzen hinweg zu erzielen. An der Uni Paderborn wird das seit drei Jahren im interdisziplinären Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK) praktiziert.
Dort gibt es einen Bachelor-Studiengang "Komparative Theologie der Religionen", daneben besuchen Lehramtsstudenten katholischer und evangelischer Religion, Philosophiestudenten und bald angehende muslimische Religionslehrer Seminare in Komparativer Theologie. Als Dozenten treten muslimische und christliche Theologen auf. Dabei ist "Teamteaching", also gemeinsamer Unterricht durch Lehrkräfte verschiedener Religionen, das Mittel der Wahl, weil er ein authentisches, dialogisches Miteinander von Religionen vermittelt.
Dialogorientierter, zeitgemäßer Religionsunterricht
Das ZeKK ist auch am bundesweiten Graduiertenkolleg für Islamische Theologie beteiligt, in dem Nachwuchs für die neuen islamisch-theologischen Institute ausgebildet wird. Im Rahmen des Hochschuldialogs mit dem Iran promovieren seit Februar zudem vier schiitische iranische Kleriker in Paderborn. Da sei seine Universität "einzigartig", hebt der Theologe von Stosch hervor: "Bei uns sitzen im Doktoranden-Kolloquium hiesige Muslime, Christen und iranische Schiiten zusammen. Wenn die über Friedrich Nietzsche diskutieren, entsteht eine ungeheure gegenseitige Inspiration."
Damit gibt es in Westfalen ein Angebot interreligiösen Lernens und Forschens, das in vielen anderen Theologiestudiengängen in Deutschland noch fehlt. Ein Anachronismus, meint Stosch: Zumindest mittelfristig müssten alle christlich-theologischen Fakultäten mindestens einen Lehrstuhl für eine nichtchristliche Religion schaffen. Vor allem die Religionslehrer-Ausbildung müsse interreligiös geweitet werden – im Dienst eines anderen, zeitgemäßen Religionsunterrichts.
Denn von Stosch sieht eine riesige kulturelle Herausforderung durch das Wiedererstarken religiöser Fundamentalismen. Kinder und Jugendliche würden heute mit unterschiedlichsten, teils gefährlichen Weltanschauungs-Angeboten konfrontiert, "zu denen sie aufgrund mangelnder religiöser Bildung kein kritisches Verhältnis aufnehmen können", schreibt er. Deshalb müsse "Religionsunterricht für alle" als Auftrag der Schulen wiederentdeckt werden.
Dabei plädiert er nicht für einen überkonfessionellen oder gar entkonfessionalisierten Religionsunterricht – der nämlich hätte keine Chance, von den Glaubensgemeinschaften angenommen zu werden. Von Stosch wirbt vielmehr für ein Konzept, in dem sich bekenntnisorientierter Unterricht der einzelnen Religionsgruppen abwechseln sollte mit gemeinsamen Unterrichtsphasen aller.
Als "wegweisend" lobt er hier die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) "Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichtes in der Pluralität". Die wurde allerdings schon 1995 verfasst und wartet immer noch auf ihre Umsetzung.
Ursula Rüssmann
© Qantara.de 2012
Klaus von Stosch: Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen. Beiträge zur Komparativen Theologie, Bd.6., Schöningh Verlag, 1. Auflage 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de