Die wenig beachtete Community
Die Anfänge der marokkanischen Einwanderung nach Deutschland liegen mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Zwischen 1963 und 1973 wurden im Rahmen des Anwerbeabkommens über 20.000 vorwiegend männliche Arbeitskräfte aus dem Großraum Nador in Nordostmarokko nach Deutschland geholt.
Sie arbeiteten hauptsächlich im Bergbau und in der Autoindustrie. Nach dem Anwerbestopp 1973 holten die meisten im Rahmen des Familiennachzuges Frauen und Kinder nach.
Heute wächst die dritte Generation heran, und es gibt eine neue "erste Generation": Rund 7.000 Jungakademiker aus Marokko sind derzeit an deutschen Universitäten eingeschrieben, jährlich kommen mehrere hundert neue Studierende dazu.
Marokkanische Einwanderer in Europa
Insgesamt leben zehn Prozent aller Marokkaner – mehr als drei Millionen Menschen – im Ausland, davon 85 Prozent in Europa. Ihre Geldrücküberweisungen an ihre Familienangehörigen und Verwandten in Marokko sind ein wichtiger Faktor für die Wirtschaft des maghrebinischen Landes (2012: Offiziell über sechs Milliarden Euro, mit inoffiziellen Transfers geschätzt zehn Prozent des BIP).
Traditionell waren Frankreich, Belgien und die Niederlande die Hauptzielländer. In den letzten Jahren hat auch Spanien an Bedeutung gewonnen. In allen genannten Ländern sind die marokkanischen Communities in der Öffentlichkeit sehr präsent.
Die Marokkaner in Deutschland waren im Vergleich dazu in der Öffentlichkeit nur wenig präsent. Den 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens (21.5.1963) sieht die deutsch-marokkanische Community deshalb als willkommene Gelegenheit, sie künftig bekannter zu machen.
Bereits 2011 veröffentlichte Abdelkader Rafoud das Buch "50 Jahre Marokkanische Migration". Rafoud, der 1972 als 15-Jähriger nach Deutschland kam und der seit 1990 die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, lebt in Offenbach, ist SPD-Mitglied und sitzt unter anderem im Ausländerbeirat der Stadt.
Das in Saarbrücken ansässige „Deutsch-Marokkanische Kompetenznetzwerk“ (DMK) will der wachsenden Zahl gut ausgebildeter, hoch motivierter deutsch-marokkanischer Fachkräfte ein Forum bieten. 80 Prozent der marokkanischen Studierenden in Deutschland sind in Ingenieurwissenschaften eingeschrieben.
"Ein Riesenpotential, auch für die Entwicklungszusammenarbeit", meint DMK-Geschäftsführerin Soraya Moket. Das DMK führt in Berlin und Frankfurt Veranstaltungen durch, bei denen unter anderem über die Frage diskutiert wird, wie die deutsch-marokkanische Wirtschaftszusammenarbeit von dieser geballten Expertise profitieren kann.
In Düsseldorf organisiert die Initiative "Aktion Gemeinwesen und Beratung" (AGB) von Mai bis Juli eine dreimonatige Veranstaltungsreihe mit Podiumsdiskussionen, Literaturlesungen, Zeitzeugenberichten, einer Fotoausstellung und einer gemeinsamen Ramadanfeier. Leiter des professionell konzipierten, medial ansprechend aufbereiteten Projektes ist der Diplom-Sozialpädagoge Samy Charchira, der 1985 als 14-Jähriger aus dem marokkanischen Tanger nach Leverkusen kam.
Die Integration verbessern
Charchira fasst die Hauptziele der Reihe zusammen: "Wir wollen zum einen darüber diskutieren, wie die Integration verbessert werden kann. Auf der anderen Seite können viele Marokkaner in Deutschland eine beachtliche Lebensleistung vorweisen: Sie haben hart gearbeitet und ihren Kindern den sozialen Aufstieg ermöglicht. Das anzuerkennen stärkt alle – die Community und die Mehrheitsgesellschaft."
Mit der Veranstaltungsreihe will der Verein AGB auch den Blick auf wenig bekannte Aspekte der marokkanischen Einwanderung in Deutschland lenken. Dazu gehört, dass 1963 und 1973 nicht nur Männer als Fabrikarbeiter nach Deutschland kamen, sondern auch mehr als 1.000 Frauen.
Ein wesentliches Hindernis für die Integration stellt bis heute das Sprachproblem dar, "Das ist eine wichtige Ursache dafür, dass überdurchschnittlich viele junge Marokkaner in Deutschland die Schule abbrechen", so Samy Charchira.
Und Charchira sieht noch eine weitere wichtige "Baustelle" auf dem Weg zur Integration. "Wir müssen uns mit dem religiösen Extremismus befassen. Wenn salafistische Prediger im Namen des Islams zu Hass und Gewalt anstacheln, dann müssen wir uns als Community aktiv zur Wehr setzen."
Identifikation mit Marokko und Deutschland
Umfragen zufolge sehen die meisten Deutsch-Marokkaner ihre Zukunft in Deutschland. Gleichzeitig gibt es eine starke Identifikation mit der marokkanischen Kultur, die sich auch in der dritten Generation fortsetzt. Diese Identifikation wird vom marokkanischen Staat bewusst gefördert: unter anderem durch den Rat der marokkanischen Gemeinden im Ausland (CCME), und durch die neue marokkanische Verfassung von 2011, die den Marokkanern im Ausland erlaubt, über Bevollmächtige in Marokko das Parlament mitzuwählen.
Und wie geht es weiter? Samy Charchira hofft jedenfalls auf noch mehr konstruktives Engagement seitens der marokkanischen Gemeinde in Deutschland: "Früher haben viele Marokkaner sich nicht engagiert, weil der marokkanische Staat die Emigranten bespitzelte. Aber die bleiernen Jahre sind lange vorbei."
Er wünscht sich mehr Vertrauen: "Es gibt immer noch zu viele Rivalitäten. Wir müssen uns gemeinsam für die Belange der Community einsetzen, und wir sollten uns nicht nur als Migranten, sondern vor allem als Staatsbürger engagieren. Gegen Ausgrenzung, für einen Dialog auf Augenhöhe."
Martina Sabra
Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de