Die blinden Flecken der Katarkritik
Eigentlich ist die Wüste ein Ort für starke und bleibende Symbole. Der vom Berg Sinai herabsteigende Moses, die beiden Gesetzestafeln mit sich schleppend, ist eines der geläufigeren. Es wurde nicht bloß in der biblischen Ur-Erzählung festgehalten, sondern später auch in der Malerei gemäßigter Breiten, die das Verbot, sich ein Bildnis zu machen, nicht so ernst nahm. Der Inhalt ist bekannt als "Die Zehn Gebote". Und hier beginnt vielleicht das Missverständnis. Auf den Tafeln sind keine Handlungsanweisungen eingraviert, bestimmte Dinge zu tun, sondern schneidige Ermahnungen, Untaten zu unterlassen, die das Zusammenleben zerstören. Verbote eben wie "Du sollst nicht töten".
Der Sinn für die einem nachhaltigen Wertekanon zwingend innewohnende Negativität ist in Vergessenheit geraten. Nur so konnte ein alberner Stofffetzen zum Zeichen des Guten positiv aufgeladen werden. Wir treten doch nur für die Menschenrechte ein. Wer kann etwas dagegen haben? One Love! Unsere Armbinde!
Der Gestus des Predigers unter den Heiden, den die deutsche Fußballnationalmannschaft und andere europäische Teams, angefeuert von den Sprechchören ihrer aufgeklärten Öffentlichkeiten, einnahmen, war dazu verdammt, ins Leere zu laufen. Das liegt nicht daran, dass die Fußballer letztlich vor der Geste wieder zurückschreckten und die ungenutzten Armbinden dann dem Müllberg des Überflusses eine dünne Schicht hinzugefügt haben.
Die deutsche Öffentlichkeit hat dieses Einknicken mit größerem Entsetzen quittiert als sportliche Rückschläge ihrer Mannschaft. Just diese Reaktion führt zum Kern des Problems.
Der Armbinden-Gestus und was er ausblendet
Den Wüsten-WM-Gastgebern war etwas beizubringen. Wir sind fortschrittlich. Wir gewähren Frauen gleiche Rechte. Wir betrachten Homosexualität und andere sexuelle Orientierungen als Teil der Freiheit und der individuellen Selbstbestimmung. Wir behandeln Bauarbeiter anständig. Wer das nicht kapiert, dessen Gesellschaft ist nicht frei, sondern rückständig, patriarchalisch, unterdrückerisch.
Die Selbstgefälligkeit, mit der das One Love-Anliegen vorgetragen wurde, hat die Wortführer der freudig-positiven Botschaft zunächst einmal blind dafür gemacht, dass der Gegenslogan "no discrimination", wer auch immer ihn sich ausgedacht und der Fifa eingeflüstert hat, gar nicht so verkehrt war. Schlimmer sind jedoch die Ausblendungen, die mit dem Armbinden-Gestus einhergehen.
Wer sich vollmundig als Träger der Menschenrechte auf feindseliges Wüstenterrain vorwagt, sollte vorab geprüft haben, mit welchem Recht er sich zum Helden solcher Inszenierung küren darf.
Allein die Tatsache, dass Homosexualität in Deutschland noch strafbar war, als die allermeisten heute lebenden Deutschen, inklusive die lautesten Katar-Kritiker, bereits geboren waren, könnte zur Bescheidenheit anregen. Wer die Rechtlosigkeit katarischer Frauen beklagt, könnte bedenken, dass deutsche Mütter bis 1975 ihre Staatsangehörigkeit nicht an ihre Kinder vererben durften. Es war das Privileg der Väter.
Die Kosten westlichen Wohlstands werden ausgelagert
Was aber, wenn wir uns erst der Situation an den europäischen Außengrenzen zuwenden? Wie hält es Europa dort etwa mit dem urväterlichen Tötungsverbot? Die sich häufenden Berichte von Pushback-Aktionen lassen erahnen, dass man es recht locker nimmt. Im Ernstfall können die Extremisten der Mitte jetzt sagen, dass es die Postfaschistin Meloni war. Und die Arbeiterrechte? Die Fokussierung auf die in vielen Fällen tödliche Ausbeutung der Arbeiter, die in Katar die WM-Stadien und die übrige Infrastruktur hochgezogen haben, könnte glauben machen, Deutschland und Europa spielten bei der internationalen Arbeitsteilung nicht mit.
Wie viele Tausend Näherinnen und Näher sind bei der Arbeit gestorben, während sie die Kleider der breiten Mittelschichten des Westens fertigten? Wie viele Bergleute, die wertvolle Metalle für die deutsche Automobilindustrie aus südafrikanischen und anderen Stollen herausgebrochen haben, sind krank geworden und bis zum Tode dahingesiecht?
Wie viele indonesische Waldbauern mussten Palmölplantagen weichen, damit Europas Autofahrer für ein gutes Ökogewissen ihrem Treibstoff ein wenig Biodiesel beimischen können?
Man darf vermuten, dass das neue deutsche Lieferkettengesetz an der internationalen Arbeitsteilung nichts Wesentliches ändern wird. Die Kosten des westlichen Wohlstands werden ausgelagert. Ist denjenigen, die lautstark von Katar die Einhaltung der Menschenrechte einfordern, klar, dass es sich dabei oft um handfeste menschliche Kosten handelt? Das Wort Externalisierung zu buchstabieren, scheint immer noch zu viel verlangt zu sein.
Vor sechzig Jahren hegte ein Philosoph den Verdacht, dass, wer sich den Pluralismus zugute halte und einfordere, vor allem beschwichtigen und die wesentlicheren gesellschaftlichen Gegensätze unter den Teppich kehren wolle. Der Verdacht hat sich erhärtet. Die Katar-Kritiker haben eine Torwand aufgestellt und mit Pappkamaraden in Dischdascha bepinselt. Weil sie dauernd neben die Torlöcher schießen, treffen sie die Pappkamaraden. Die Wüsten-WM-Debatte dreht sich um Nebenwidersprüche.
"Die Wüsten-WM-Debatte dreht sich um Nebenwidersprüche"
Um sich gegen den banalsten und hinfälligsten Positivismus zu wappnen, brauchen sich die Katar-Kritiker nicht auf die, vielleicht etwas mühsame, Suche nach dem wolkenumhangenen Wüstenberg Sinai zu begeben. Ein Blick ins Grundgesetz reicht. Man würde bemerken, dass die moderne deutsche Version der Menschenrechte auch negativ angelegt ist. Die Würde des Menschen darf nicht angetastet werden.
Der Körper darf nicht versehrt, die Freiheit der Person nicht verletzt, niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Heimat und Herkunft, seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Es sind Abwehrrechte gegen An- und Übergriffe. No discrimination. Man kann bedauern, dass der Parlamentarische Rat nicht davor warnte, in Wüstengegenden und anderen fernen Landstrichen nach wohlfeiler Sebstbestätigung zu streben.
Den Katar-Kritikern scheint entgangen zu sein, dass die Herrscherfamilie Al-Thani, durchaus im Gegensatz zu ihrer Nationalelf, den Ball äußerst geschickt auf das internationale Feld zurückgespielt hat. Sie haben sich mit dieser WM die Ordnung, nach der die Welt gestaltet ist, zu eigen und zunutze gemacht. They played by the rules.
Das fängt mit den Vorzügen der internationalen Arbeitsteilung an. Aber es geht viel weiter. Weil solch ein Spektakel unpolitisch sein muss, hält die Herrscherfamilie den Protest gegen das Regime im Nachbarland Iran aus den WM-Stadien fern. Die iranische Elf solidarisiert sich im Übrigen nicht, anders als von zahlreichen deutschen Medien berichtet, mit den Anti-Regierungsprotesten in ihrer Heimat.
Zum Thema Frauen bei der #wm2022 in #Katar, Berichterstattung, Bevormundung und Orientalismus. Entschuldigt das wir jetzt etwas länger, aber bitte lest es bis zum Ende. Auf meine letzten Tweets wurde z.T. entgegnet, dass unsere Medien viel über .... pic.twitter.com/1vbgAts0TQ
— Karim El-Gawhary (@Gawhary) November 27, 2022
"Die Katarer halten der Welt den Spiegel vor"
Nichts darf den Kommerz stören. Probleme, die man nun wirklich nicht wegdiskutieren kann, müssen vertikal in den Kommerz integriert werden. Als Anteilseigner von Daimler und VW wissen die Katarer, wie man Millionen Dieselfahrzeuge und Benziner weltweit auf die Straße bringen und sich dabei trotzdem als grün verkaufen kann. Sie wissen, dass, wenn man die Umstellung auf Flüssiggas (LNG), das Deutschland ja zum Teil in Katar kauft, zum Bestandteil der Energiewende erklären kann, dem Greenwashing keine Grenzen mehr gesetzt sind.
Niemand wird sich daran stören, dass schon vor der WM und der Errichtung von acht neuen Stadien in der Wüste die Qatarer Weltmeister im Pro-Kopf-Ausstoß klimaschädlicher Gase waren. Die Herrscherfamilie Al-Thani weiß, dass man zur Abfederung auf Al-Jazeera und anderen Kanälen Werbespots schalten kann, in denen man die WM einfach für nachhaltig erklärt und sich rühmt, 5.000 Bäume gepflanzt zu haben. Zur Klimakonferenz in Ägypten sind schließlich auch alle im Flugzeug angereist.
Katars Herrscher wissen, dass die globalen, von Kontinent zu Kontinent reisenden Mittelschichten Themenparks wollen, die sich gleichen. Also bekommen sie auch in Katar einen. Die Katarer halten der Welt den Spiegel vor. Und wenn die Welt sich hässlich findet, dann schreit sie auf und gibt dem Spiegelhalter die Schuld.
Manche Grundsatzkritiker urteilen, Großereignisse wie die Fußball-WM, die Expo oder die Olympischen Spiele passten nicht mehr in unsere Zeit. Diese Kritik ist sicher gut gemeint. Aber sie ist zu konstruktiv und fällt dadurch ihrem eigenen Gutmeinen zum Opfer. Die WM in Katar passt genau in unsere Zeit, wie der Tanz um das goldene Kalb. Niemand hätte sich ein passgenaueres und treffsichereres Spektakel ausdenken können. Dieser Erfolg steht viele Tage vor dem Endspiel bereits fest.
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