Nah an den Wunden, näher an der Hoffnung
Wer das Patriarchat besiegt, lässt sich auch von Corona nicht aufhalten. Denn dass die drei irakischen Autorinnen und die deutsche Journalistin in Deutschland auf Lesereise sind, ist angesichts der Pandemie schon eine kleine Sensation. Amal Ibrahim, Azhar Ali Hussein, Rola Buraq und Birgit Svensson stellen den zweiten Band ihrer „Inana“- Anthologie vor – ein höchst spannendes Schaufenster in den Irak aus rein weiblicher Sicht.
Der Band „Mit den Augen von Inana“ versammelt neun Kurzgeschichten und 17 Gedichte von etablierten Schriftstellerinnen, dazu sechs Texte von Nachwuchsautorinnen. Die 32 Autorinnen stammen aus allen Teilen des Irak und bringen jeweils einen sunnitischen, schiitischen, kurdischen oder christlichen Hintergrund mit. Genau das mache den Band so lesenswert, sagt Initiatorin Birgit Svensson: „Jede der Frauen hat ganz verschiedene Dinge erlebt und gesehen.“
Deshalb passe der Titel so gut – auch Inana, die berühmte sumerische Göttin des Krieges und der Liebe, der Fruchtbarkeit aber auch der Vernichtung, sei widersprüchlich und facettenreich. Und: Inana habe mit ihrem Vater um die Macht im antiken Uruk gekämpft – und gewonnen, als Frau. Dass auf dem Buchcover das nackte Relief der Göttin abgebildet ist, sei für die konservative irakische Gesellschaft eine Sensation, sagt Svensson.
„Frauen haben an den Veränderungen im heutigen Irak einen sehr großen Anteil“, sagt Amal Ibrahim. Sie ist Lyrikerin und Übersetzerin in Bagdad, hat den Band mit herausgegeben und war schon beim ersten Teil von „Inana“ dabei, der 2013 auf Arabisch, 2015 dann auf Deutsch erschienen ist.
„Die Veränderungen sind überall spürbar, nicht zuletzt in der Literatur, aber tatsächlich in allen Bereichen der Gesellschaft.“ Dass Frauen sich der vielfältigen, systematischen Unterdrückung im männerdominierten Irak entgegenstellten, sei vor allem am Bagdader Tahrir-Platz zu beobachten.
Proteste gegen die Einmischung von außen
Dort demonstrieren seit über einem Jahr Irakerinnen und Iraker für eine bessere Zukunft. Getragen werden die Proteste von mehrheitlich jungen Aktivistinnen und Aktivisten, aber auch von Irakern aller Generationen über konfessionelle und soziale Grenzen hinweg, erklärt Azhar Ali Hussein.
„Natürlich demonstrieren wir auch für mehr Jobs und bessere Perspektiven“, sagt die Schriftstellerin und Fernsehjournalistin aus Bagdad. „Aber es geht tiefer. Wir fordern, dass der Staat endlich handlungsfähig wird und sich gegen die iranische und saudische Einmischung wehrt.“
Zwar hat sich der seit Mai 2020 amtierende irakische Ministerpräsident Mustafa al-Kadhimi viel vorgenommen. Er will den iranischen Einfluss zurückdrängen und damit anfangen, den Sumpf aus Korruption trockenzulegen – eine Sisyphusarbeit. Unter den Revolutionären des Tahrir-Platzes genießt al-Kadhimi deshalb durchaus Sympathien. Dennoch kommt es zu Entführungen, Schüssen und Gewalt: „Es wird alles getan, damit die Proteste sterben“, sagt Birgit Svensson. Die Täter kommen zumeist aus den Reihen der schiitischen Milizen.
Etwa 30 dieser Milizen soll es geben, lose unter dem Dach der Hashd al-Shaabi vereint. Diese und andere „Volksmobilisierungskräfte“ bestanden teils schon unter Saddam Hussein und bildeten sich verstärkt nach dem Einmarsch der USA ab 2003.
2017 hatten die Hashd al-Shaabi den IS erfolgreich bekämpft, danach sollten sie eigentlich in die irakischen Sicherheitskräfte integriert werden. Allerdings stehen die Milizen stark unter dem Einfluss des Iran, der sie ausbildet, bezahlt und mit ihrer Hilfe letztlich als Statthalter im Irak agieren will.
Literatur aus der Extremisten-Hochburg Mossul
Rola Buraq hat die Schreckensherrschaft des sogenannten Islamischen Staates selbst miterlebt. Sie ist die jüngste der drei nach Deutschland gereisten Autorinnen und promoviert derzeit in ihrer Heimatstadt Mossul – so etwas wie der irakischen Hochburg religiöser Extremisten – über arabische Literatur.
Von 2014 bis 2017 herrschte dort der IS. Weil jeglicher Fluchtversuch mit dem Tod oder grausamer Rache an der Familie bestraft wurde, blieb Rola Buraq wohl oder übel in der Stadt. „Mit das Schlimmste war die Unsicherheit. Man wusste nicht, wie lange das alles dauert und ob es überhaupt jemals zu Ende geht.“
Zwar sei der IS nun militärisch besiegt, doch gebe es eine große Zahl von Kindern, die indoktriniert worden und tief traumatisiert seien, etwa durch die öffentlichen Hinrichtungen. „Man muss sich Sorgen machen um die Zukunft dieser Stadt“, sagt Rola Buraq. Das Netzwerk der „Inana“-Frauen aber sei ein Lichtblick: Heute seien Frauen in leitender Funktion für die Zivilgesellschaft von Mossul tätig.
Das sei dort bisher vollkommen unmöglich gewesen – schon vor der Machtübernahme des IS galt die Stadt als sehr konservativ. „Im ersten Band hatten wir noch keine Autorin aus Mossul dabei, nun sind es drei“, sagt Birgit Svensson.
Das Schreiben bietet nicht nur jeder einzelnen Frau die Möglichkeit, aus verkrusteten Strukturen auszubrechen, sondern ermöglicht einen Aufbruch auch auf kollektiver Ebene.
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Mit Lebenskraft und Humor
Während des IS-Kalifats habe besonders das Schicksal der Yeziden die Menschen bewegt, betont auch Rola Buraq. Deren Unterdrückung hat traurige Tradition, bis hin zum versuchten Völkermord durch den IS. Besonders litten die yezidischen Frauen, die in vielen Fällen versklavt, vergewaltigt und misshandelt worden waren. „Der Krieg endet nicht mit einer kurzen Reise, einem Opfer, einem Verlust“, schreibt Rola Buraq in ihrem Gedicht „Muster“, das im „Inana“-Band vertreten ist.
Azhar Ali Husseins Beitrag „Schaufenster“ beschreibt Situationen, die in all ihrer Traurigkeit und Bitterkeit auch den Humor und die Lebenskraft der Iraker durchscheinen lassen. Amal Ibrahim erzählt in ihrem Gedicht „Biografien“ von der Arglosigkeit, aber auch von den Wunden einer Kindheit im Irak.
Saddam Hussein, das Embargo nach dem Kuwait-Krieg, die amerikanisch-britische Invasion 2003, der Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten und schließlich das IS-Kalifat: Lyrik und Prosa der Autorinnen integrieren alle diese Epochen. Die politischen Ereignisse finden sich in den persönlichen Erfahrungen und Reflexionen der Frauen wieder.
So ist ein zwar höchst individueller, aber in der Gesamtheit seiner Perspektiven eben doch breit gültiger Querschnitt von Texten entstanden, „ein Zeitdokument der neueren irakischen Geschichte“, wie beim beteiligten Goethe-Institut zu lesen ist.
Während der erste „Inana“-Band auch irakische Schriftstellerinnen aus dem Exil einbezog, ist „Inana zwei“ jetzt rein irakisch: Alle Texte wurden von Autorinnen geschrieben, die im Irak leben und arbeiten. Für sie ist es eine Möglichkeit, ihre Gefühle, Hoffnungen und Sorgen zu verarbeiten.
Das „Inana“-Netzwerk reiche mittlerweile aber viel tiefer, sagt Amal Ibrahim: Es habe den Austausch zwischen den Frauen des Irak angestoßen, aber es gehe längst nicht mehr nur ums Schreiben, sondern um aktive Teilhabe und die Gestaltung der irakischen Gesellschaft.
© Qantara.de 2020
„Mit den Augen von Inana. Zweite Anthologie zeitgenössischer Autorinnen aus dem Irak“, herausgegeben von Amal Ibrahim al-Nussairi und Birgit Svensson, Übersetzung von Stephan Milich und Günther Orth, Verlag Schiler & Mücke, 2020.