Der Staat bin ich!
"Heute hat Mursi sich zum neuen ägyptischen Pharao gekrönt", twitterte Mohammed ElBaradei am vergangenen Donnerstagabend (22.11.2012). Der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Präsidentschaftskandidat reagierte damit auf ein Dekret, mit dem Präsident Mohamed Mursi seine Befugnisse weiter ausgebaut hat. Auch der libanesische Journalist Eyad Abu Shakra, der in London lebt, spricht von einem "sanften Staatsstreich" der Muslimbrüder.
Was war geschehen? Am letzten Donnerstag hatte Mursi verfügt, dass alle von ihm erlassenen Gesetze unanfechtbar sind und dass die Verfahren gegen führende Mitglieder des im vergangenen Jahr gestürzten Mubarak-Regimes wiederaufgenommen werden sollen.
Außerdem sprach er der Justiz das Recht ab, die verfassungsgebende Versammlung aufzulösen und tauschte den Generalstaatsanwalt aus. Dieser stammte noch aus der Mubarak-Zeit, und immer wieder war es in den vergangenen Monaten zu Machtkämpfen zwischen der Justiz und dem neuen Regime gekommen.
Kräftemessen mit der Justiz
"Mursi - und die hinter ihm stehende Muslimbruderschaft - hatte sicherlich Angst, dass die Verfassungsgebende Versammlung in den kommenden Wochen durch einen Gerichtsentscheid aufgelöst wird", erklärt Stephan Roll von der "Stiftung Wissenschaft und Politik". Schließlich stehe "Ägypten wirtschaftlich mit dem Rücken zu Wand" und könne sich keine politischen Unsicherheiten erlauben. Dass sich Mursi jetzt mit den Staatsträgern und Funktionären der Ministerien und der Justiz angelegt habe, zeuge davon, "dass er seine Macht so einschätzt, dass es möglich ist, sich gegen diese mächtigen Seilschaften zu stellen."
Der Grund für dieses Selbstbewusstsein ist zum einen seine Rolle als Moderator im Konflikt zwischen der Hamas und Israel. Am letzten Mittwochabend hatte ein von Mursi vermittelter Waffenstillstand die Kämpfe beendet, die in der vorangegangenen Woche aufgeflammt waren. Durch den diplomatischen Erfolg habe sich Präsident Mursi international bestärkt gefühlt. So sieht es zumindest der Journalist Abu Shakra.
Schulterschluss mit der Armee
Hinzu kämen die Verhandlungen über einen Kredit vom Internationalen Währungsfonds, die vor kurzem erfolgreich abgeschlossen wurden, ergänzt Stephan Roll. Auch habe Mursi in den letzten Wochen engere Bande mit dem ägyptischen Militär knüpfen können: Er habe der Militärführung jetzt weitere Vollmachten zugesprochen, etwa das Recht zur Generalmobilmachung und das Recht, in die Gerichtsbarkeit der Militärgerichte einzugreifen. Roll sieht hinter diesen Entwicklungen Absprachen zwischen der Militärführung und Mursi. Der Präsident habe also im Gegenzug aus dieser Richtung wenig Widerstand zu befürchten.
Heftiger Widerstand kommt seit Tagen von der Opposition: Tausende zogen am letzten Freitag (23.11.) durch die Straßen, in mehreren Städten wurden Büros der Muslimbrüder in Brand gesetzt, es kam zu Zusammenstößen zwischen der Opposition und Anhängern von Mursi. Hunderte Oppositionsanhänger blieben auch in der Nacht zum Samstag auf dem Tahrir-Platz in Kairo.
"Im Grunde bleibt tatsächlich nur der Protest auf der Straße", sagt Roll. Denn bereits im vergangenen August hätte sich Präsident Mursi in einem Verfassungszusatz weitreichende legislative und exekutive Befugnisse eingeräumt. Die "alleinige Macht", die der Präsident jetzt innehabe, lasse sich durch Gerichtsentscheidungen oder politische Prozesse nicht mehr aufheben.
Kritiker fürchten schleichende Machübernahme
Der Journalist Eyad Abu Shakra befürchtet deshalb, dass das Präsidentendekret nur ein weiterer Schritt in einer schleichenden Machtübernahme durch die Muslimbrüder sei: "Sie sind sehr gewieft darin, sich in einen demokratischen Mantel zu hüllen." Doch unter dem Mantel, so Shakra, verstecke sich eine ziemlich undemokratische Agenda.
Stephen Roll aber zeigt sich weniger beunruhigt - bislang. Ägypten befinde sich noch inmitten eines chaotischen Reform- und Transformationsprozesses; überhaupt von einer Demokratie zu sprechen, sei verfrüht: "Wir müssen sehen, ob Mursi diese Macht nutzt, um den Transformationsprozess anzustoßen - oder aber, um seine eigene Macht weiter auszubauen."
Naomi Conrad
© Deutsche Welle 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de