Reform ohne Regimewechsel?

Trotz wirtschaftlichen und politischen Stillstands erlebt Marokko nicht dasselbe Ausmaß der Proteste wie andere arabische Länder. Gründe für das Ausbleiben eines Volksaufstandes gegen König Mohammed VI.

Von Moha Ennaji

Unter dem Eindruck der Ereignisse in Ägypten und Tunesien fordern auch die Marokkaner politische und verfassungsmäßige Rechte, die den Bürgern mehr Einfluss auf die Regierungstätigkeit erlauben. Doch im Unterschied zu ihren Nachbarn hielten sich die Marokkaner bisher mit Forderungen nach einer Ablösung der Regierung zurück.

Dieser Unterschied hängt wohl einerseits mit dem Wunsch der Bevölkerung zusammen, an der Monarchie festzuhalten und andererseits auf demokratische Reformen zu drängen.

Die Monarchie ist in der marokkanischen Kultur tief verwurzelt und erfreut sich eines hohen Maßes an Legitimität, die ihr allgemein zugeschrieben wird. Und in der Tat hat Mohammed VI., seit er 1999 an die Macht kam, einige Reformen in die Wege geleitet, darunter vor allem jene, die Frauen mehr Rechte und die formelle Gleichstellung gegenüber den Männern zugestehen sowie die Einrichtung der Wahrheitskommission im Jahr 2004, der die Fälle von Verschleppungen und willkürlichen Inhaftierungen während der Diktatur des vorangegangenen Königs zu dokumentieren.

Den Protesten den Wind aus den Segeln nehmen

​​In einer Rede zu Beginn dieses Jahres antwortete Mohammed VI. auf die Proteste in Marokko, indem er einen Reformprozess ankündigte, der die Trennung der Exekutive, Legislative und Judikative vorsieht. Innerhalb der Exekutive soll die Regierung durch den Premierminister und den Fachministern gebildet werden, die der legislativen Macht des Parlaments gegenüber rechenschaftspflichtig sind.

Darüber hinaus soll die Judikative eine unabhängige Instanz werden. Diese Reformen werden dem Kabinett, dem Parlament und der Judikative zu mehr Macht verhelfen – und letztlich dem Volk.

Der König kündigte zudem die Umsetzung einer Reihe von Reformen an, die der Ausweitung persönlicher Freiheiten ebenso gewidmet sind, wie den Menschenrechten und der Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Die Muttersprache der marokkanischen Berber (Amazigh), wurde als offizielle Sprache neben dem Arabischen anerkannt, womit der König einer weiteren Forderung der Protestbewegung entsprach.

Dialog statt Konfrontation

Die marokkanische Regierung vertraute vor allem mit friedlichen Gesprächen und Verhandlungen auf die Unruhen – im Gegensatz zu anderen arabischen Staaten, in denen zur Gewalt gegriffen wurde, um die Unruhen im Keim zu ersticken. Nach einigen Monaten des Dialogs zwischen Reformaktivisten und den politischen Parteien konnte am 1. Juli schließlich eine neue Verfassung geschaffen werden, die zuvor von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung per Referendum beschlossen wurde.

​​Die Verfassungszusätze stellen überdies sicher, dass das Königreich nach Ablauf eines Jahres in eine parlamentarische Monarchie mit freien und gleichen Wahlen umgewandelt wird. Eine weitere Dezentralisierung wird für eine Verschiebung der Macht und Ressourcen vom politischen Zentrum in die Regionen sorgen. Dies bedeutet, dass die Verfassungsänderungen auch die regionalen Volksvertretungen stärken werden, die direkt gewählt werden.

Einer der wichtigsten Reformschritte aber besteht darin, dass der Premierminister zukünftig aus der Partei kommen muss, die die Wahlen gewinnt und der es damit auch obliegt, das Kabinett zu bilden. Die Verfassung erläutert diese Verschiebung der exekutiven Macht vom König zum Premierminister dahingehend, dass zukünftig letzterer der Exekutive vorstehen wird und alleinige Verantwortung für die Regierung, die Verwaltung und die Durchführung des Regierungsprogramms übernehmen wird.

Der Reformprozess wird mit der Verabschiedung neuer Wahlgesetze beginnen, die freie und gleiche Parlamentswahlen regeln sollen, von denen die ersten am 25. November abgehalten werden.

​​Die größten Herausforderungen für diesen Reformprozess bestehen zweifelsohne im schleppenden wirtschaftlichen Wachstum des Landes, der zunehmenden Armut und Korruption in vielen Bereichen.

Zudem steigt der Bedarf an Arbeitsplätzen, das Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung sind reformbedürftig. Bisher aber haben die Ministerien für Finanzen, Arbeit, Gesundheit, Bildung und Kommunikation nur langsam auf die wachsenden Probleme reagiert.

Für die Aktivisten reichen diese Reformen nicht aus, da der König auch weiterhin wichtige exekutive Befugnisse behalten wird – wie zum Beispiel das Recht, den Premierminister aus der Partei mit den meisten Sitzen im Parlament zu wählen.

Zudem würde er auch weiterhin die Armee führen, die Minister und Botschafter ernennen und die Kabinettssitzungen leiten, wenn es um Sicherheits- oder strategische Angelegenheiten geht. Auch hätte er noch immer das Recht zur Auflösung des Parlaments. Seine Stellung als "Herrscher der Gläubigen" und geistlicher Führer der Muslime des marokkanischen Königreichs bliebe unangetastet.

Widerstand der Protestbewegung

Auch die Bewegung des 20. Juni gehört zu jenen Kräften, denen die vorgeschlagenen Reformen nicht weit genug gehen. Das Reformbündnis nahm bereits am vergangenen Referendum nicht teil und rief zum Boykott der Parlamentswahl am 25. November auf.

Die Anhänger der Bewegung behaupten, dass die neue Verfassung nichts daran ändert, dass die berberische Zivilbevölkerung von der – in ihren Augen – arabisch-dominierten Regierung auch künftig politisch marginalisiert werde und die offizielle Anerkennung ihrer Muttersprache lediglich eine symbolische Geste sei. Die Opposition glaubt, dass die Veränderungen nicht ausreichen, um Marokko in eine konstitutionelle Monarchie nach europäischem Vorbild zu transformieren.

Die verschiedenen politischen Parteien, zivilgesellschaftlichen Akteure und Medien gehen jedoch mehrheitlich davon aus, dass die neue Verfassung weitreichende Konsequenzen haben wird, dass jedoch noch eine große Herausforderung sein wird, die Verfassungsänderungen effektiv und umfassend umzusetzen.

Sie vertrauen jedoch darauf, dass der König diese Herkulesaufgabe stemmen wird – in Übereinstimmung mit den Forderungen der Reformbewegung nach Rechtsstaatlichkeit, der Garantie von Bürgerrechten und der Einrichtung sozial gerechter, demokratischer Strukturen.

Moha Ennaji

© Common Ground News Service 2011

Moha Ennaji ist Professor für Kulturwissenschaften und "Gender Studies" an der Sidi Mohamed Ben Abdellah Universität sowie Präsident des "Internationalen Instituts für Sprache und Kultur" in Fez, Marokko.

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de