"Der Vertrauensverlust ist eine politische Realität"
Der Chef der marokkanischen Zentralbank, Abdellatif Jouahri, hat mit seinen Äußerungen über das mangelnde Vertrauen der Marokkanerinnen und Marokkaner in Politik, etablierte Parteien, öffentliche Verwaltung und zentrale Verantwortliche im Land für Furore gesorgt und eine kontroverse Debatte entfacht.
Bei der offiziellen Vorstellung eines Berichts des größten Finanzinstituts Marokkos bezeichnete Jouahri die Politikerinnen und Politiker der marokkanischen Parteien als "reine Gurkentruppe“, die zu nichts nütze seien. Ihm zufolge haben die Marokkanerinnen und Marokkaner nach zahlreichen gebrochenen Wahlversprechen nicht nur das Vertrauen in die Politiker, sondern auch in die öffentlichen Institutionen des Landes auf breiter Ebene verloren - wörtlich sagte er: "Die Leute glauben uns nicht mehr!“
Jouahris einflussreiche Position im Land verleiht seinen Worten besonderes Gewicht. Sie trafen die Repräsentanten des politischen Establishments ins Mark und heizten die politische Debatte in der marokkanischen Öffentlichkeit an. Dies hat mehrere Gründe:
Zum einen stammen die Äußerungen von niemand geringerem als dem Verantwortlichen für die marokkanische Geldpolitik, der auf seinem Gebiet langjährige Expertise vorweisen kann. Seit 2003 leitet Jouahri die marokkanische Zentralbank. Zuvor war er von 1981 bis 1986 Finanzminister unter dem 1999 verstorbenen König Hassan II., während sich Marokko auf dem Höhepunkt einer schweren Wirtschaftskrise befand. In seine Amtszeit fiel auch die Phase der sogenannten "Agenda der Strukturreformen“, als sich Marokko gezwungen sah, den Forderungen internationaler Finanzinstitutionen nachzugeben und sich den unfairen Bedingungen seiner Gläubiger unterzuordnen, um weitere Kredite zu erhalten.
Angst vor der Wahlenthaltung des Bürgers
Zum anderen stehen in Marokko von Sommer bis Herbst 2021 eine Reihe von Wahlen an. Somit trifft die Kritik die Verantwortlichen in einer besonders entscheidenden Phase für das Land, die nun befürchten, dass die Marokkanerinnen und Marokkaner den Wahlurnen fernbleiben werden. Diese Befürchtung veranlasste das mit der Organisation der Wahlen betraute Innenministerium zu einer breiten Medienkampagne, die junge Menschen dazu ermutigen soll, sich aktiv an den Wahlen zu beteiligen und sich für die Wahllisten der Parteien aufstellen zu lassen.
Einige begrüßten die Aussagen Jouahris, sie verstehen sein Ansinnen als legitime Warnung vor dem eklatant abnehmenden Vertrauen und der wachsenden Frustration gegenüber dem Staat, seinen Institutionen und Vertretern – ein Nährboden für zunehmende Wut in der Gesellschaft gegen ebenjenen Staat und alle Institutionen, die ihn repräsentieren.
Für Jouahris Kritiker hingegen – meist führende Köpfe und Anhänger des politischen Establishments – sind seine Aussagen nicht mehr als politisch motivierte Übertreibungen eines Technokraten, der, vom König in sein Amt berufen, eigentlich zu politischer Zurückhaltung angehalten sei.
Ein neuer Gesellschaftsvertrag ist notwendig
Wie man auch zu Jouahris Äußerungen stehen mag – es steht fest, dass Marokkos Parteien, Institutionen und der politische Apparat als Ganzes mitten in einer tiefen Vertrauenskrise stecken. Das ist die aktuelle politische Realität, wie sie viele Marokkanerinnen und Marokkaner erleben und in den sozialen Medien täglich zum Ausdruck bringen. Noch lässt die Staatsmacht die wenigen Demonstrationszüge, mal gezwungenermaßen, mal billigend gewähren, die sich auf den Straßen zusammenfinden, um ihrem Ärger über die wachsenden gesellschaftlichen Spannungen Luft zu machen.
In der Vergangenheit haben Berichte staatlicher, zivilgesellschaftlicher oder internationaler Organisationen bereits auf die Gefahr eines wachsenden Vertrauensverlustes in staatliche und gesellschaftliche Institutionen in Marokko hingewiesen. Studien und Feldforschungen renommierter Forschungszentren haben dieses Phänomen ausführlich beschrieben.
An dieser Stelle sei auf einen Bericht verwiesen, der vor einigen Wochen von der, von König Mohammed VI. ins Leben gerufenen, Kommission für das "New Development Model“ (frz. Le Nouveau Modèle de Développement) herausgegeben wurde. Das Gremium aus Experten, Forscherinnen und Beamten soll eine neue Vision für Wachstum und Entwicklung in Marokko entwerfen. Der Bericht nimmt unter anderem den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Status quo unter die Lupe. Er diagnostiziert dem Land eine Krise des Vertrauens in die öffentliche Hand, die politischen und wirtschaftlichen Eliten bis hin zu den wohlhabenderen gesellschaftlichen Schichten, die, so die allgemeine Meinung, unrechtmäßige Privilegien genießen und sich nicht um das Allgemeinwohl scheren würden.
Die Autoren des Berichts führen den Vertrauensverlust auf mangelnde gesellschaftliche Aufstiegschancen, eine immer größer werdende soziale Kluft, die abnehmende Qualität öffentlicher Dienstleistungen, ein schwindendes moralisches Gewissen bei den Eliten sowie mangelnde Integrität der Angestellten im öffentlichen Sektor zurück. Außerdem warnt der Bericht vor Zukunftsängsten in der Bevölkerung, die sich aus dem mangelnden Vertrauen in die öffentliche Hand und deren Fähigkeit speisen, im Sinne des Allgemeinwohls zu handeln.
Der Chef der marokkanischen Zentralbank und der Bericht der Kommission für das "New Development Model“ kommen zum selben Schluss: Das Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Bürgern und Verantwortlichen in Politik und Verwaltung ist schwer erschüttert. Die Regierung, ihre Institutionen und gewählten Vertreterinnen und Vertreter, die öffentliche Verwaltung und soziale Einrichtungen stehen auf der einen, die Gesellschaft und die marokkanischen Bürger auf der anderen Seite.
Die Ursachen für diese Krise im Vertrauensverhältnis sehen sie in einem Mangel an Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Transparenz, Good Governance, Rechtsstaatlichkeit und Gleichheit aller vor dem Gesetz.
Fehlendes Vertrauen in Politik und Gesellschaft ist kein neues Phänomen in Marokko – zu lange wird die politische Arbeit im Land schon von den Interessen Einzelner aus der Elite bestimmt. Der Staat verfolgt offiziell einen profitorientierten Kurs, schützt korrupte Strukturen und ihre Profiteure. Gleichzeitig hält er Regierung, Parlament, gewählten Organen und nichtstaatlichen Organisationen klein, indem er ihre Glaubwürdigkeit gezielt untergräbt und ihren Einfluss auf das politische und gesellschaftliche Geschehen auf das Nötigste beschränkt.
Wie heikel es ist, diese allseits bekannten Tatsachen laut auszusprechen, zeigt sich insbesondere in diesen Tagen, am Vorabend der Wahlen, bei denen die Marokkaner am 8. September ein neues Parlament und eine neue Regierung wählen.
Das Vertrauen der Bürger lässt sich nicht durch einen verbalen Schlagabtausch in aufgeheizten Debatten herstellen, die die vorhandenen Gräben zwischen Staat und Gesellschaft ohnehin nur vertiefen. Um die Probleme ernsthaft anzugehen, braucht es einen klaren politischen Willen, den Gesellschaftsvertrag zu erneuern, in dem Werte wie Transparenz, Good Governance, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung nicht nur hohle Versprechen sind, sondern tatsächlich Anwendung finden. Nur so lässt sich das Vertrauen zwischen dem Staat und seinen Bürgern wiederherstellen. Es braucht Chancengleichheit für alle, wirtschaftlichen Aufschwung und weniger soziale Ungleichheit.
Die einzigen Profiteure der Vertrauenskrise sind die staatlichen Sicherheits- und Kontrollapparate, die ihre Macht unter dem Vorwand von Stabilität und Sicherheit ausweiten. Die Leidtragenden sind dabei wie so oft die Menschen, deren Freiheiten und Rechte eingeschränkt werden. Kurzfristig mag es gelingen, die Lage unter Kontrolle zu halten, doch ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt und sich der politische Frust der Menschen Bahn bricht.
Ali Anouzla
© Qantara.de 2021
Aus dem Arabischen übersetzt von Rowena Richter