Fingerspitzengefühl gefragt

Jeder kennt, jeder liebt das Waisenmädchen Momo aus der fantastischen Feder des Schriftstellers Michael Ende. Jetzt soll Momo auch arabische Kinder auf ihre Zeitreisen mitnehmen.

Von Ann-Katrin Gässlein

​​Am 23. April, dem "Internationalen Tag des Buches" wird im Arabischen Kulturzentrum in Damaskus-Mezze ein ehrgeiziges Projekt vorgestellt. In den 90er Jahren war der Roman "Momo" des unangefochtenen Meisters der deutschen Kinder- und Jugendliteratur, Michael Ende, einmal im Libanon und – unabhängig davon – von dem Ägypter Baher Gouhary ins Arabische übersetzt worden.

Die libanesische Übersetzung wurde 2002 in Marokko auch in etwa 30 Schulen und Kulturzentren mit großem Erfolg vorgestellt und vertrieben. Da beide Auflagen nicht mehr lieferbar waren, wird die ägyptische Version, die auch sprachlich ansprechender war, neu herausgegeben.

Momo auch für blinde Kinder

Bereits mit der Übersetzung der "Unendlichen Geschichte" hatte sich Gouhary einen Namen gemacht. Präsentiert wird die Neuauflage gemeinsam mit dem Hörspiel "Momo" auf CD-Rom, inszeniert und aufgenommen von der syrischen Regisseurin Nora Murad.

Eine besonders wichtige Hörergruppe stellen blinde Kinder, für die es in der arabischen Literaturszene kaum Angebote gibt. Ein Hörspiel, das einen Ausschnitt der Momo-Geschichte dramaturgisch umsetzt und gestaltet, war daher eine sowohl künstlerische wie auch pädagogische Herausforderung für die Produzenten.

Phänomen der Zeitknappheit

In den arabischen Ländern – so die Regisseurin Nora Murad – sei der Boden für eine anspruchsvolle, aber auch poetische Geschichte wie "Momo" bereitet: Das Phänomen der Zeitknappheit, mit dem sich das Waisenmädchen und ihre Freunde auseinandersetzen, sei auch in der arabischen Welt nicht unbekannt, auch wenn oft noch stärkere Familienbindungen das Problem nicht so sehr in den Mittelpunkt rückten wie in der westlichen Welt.

Die Faszination der Geschichte "Momo" auch für arabische Literaturfreunde erklärt Manfred Ewel, Leiter des Goethe-Instituts Damaskus, einerseits mit den zeitgemäßen Inhalten, andererseits mit dem besonderen Stil des Buches. In der arabischen Literatur fänden sich solche Bücher eher selten:

Zu stark werde ein belehrender Ton angeschlagen, der die Kinder mit erhobenem Zeigefinger zu erziehen versuche, statt durch spannende, phantasievolle Geschichten Freude und Lust am Lesen und Nachdenken zu wecken.

Buch plus Hörspiel wird vertrieben

Der syrische Verlag "Dar al-Fikr" wird das Buch plus Hörspiel auf CD in der ganzen arabischen Welt vertreiben. Leser in Europa oder in den Vereinigten Staaten können das Paket über das Internet www.fikr.com bestellen – eine große Chance, wenn man sich die Probleme mit allgemeiner "Leseförderung" in der arabischen Welt vor Augen hält: Denn es gibt viel zu wenige öffentliche Bibliotheken, kaum Lesewettbewerbe oder andere Initiativen zur Förderung guter Literatur in den arabischen Ländern.

Welche Herausforderungen die Übersetzung und Inszenierung von "Momo" ins Arabische mit sich brachte, zeigt die Anekdote um die Figur des "Meister Hora": Bei Michael Ende kann die Figur des alten weißen Mannes, in dessen Macht es liegt, sogar die Zeit anzuhalten, als Stellvertreter für den Autor selbst gelesen werden.

Religiöse Unterschiede fordern Übersetzer heraus

In der arabischen Inszenierung des Hörspiels ist bei der Charakterisierung des Meisters höchstes Fingerspitzengefühl gefragt: Auf keinen Fall soll der Eindruck entstehen, Meister Hora symbolisiere den Schöpfer und Herrn über die Zeit - eine Eigenschaft, die für gläubige Muslime nur Gott allein zukommt.

Bei der Übersetzung galt es daher, keine religiös besetzten Formulierungen zu verwenden und klar auszudrücken, wie Meister Hora seine dramatische Rolle im Roman als wohlmeinender Helfer ausfüllt. Doch auch der in seinem Programm eher religiös orientierte Verlag "Dar al-Fikr" hat den Vertrieb von Buch und Hörspiel mitsamt seinen philosophisch-existentialistischen Inhalten akzeptiert und steht hinter dem Projekt.

Regisseurin und Schauspieler zu Besuch an Schulen

Für Vorführungen in syrischen Grundschulen hat Nora Murad bewusst nur zwei Schlüsselszenen ausgewählt und diese auch mit Musik umgesetzt, um das Interesse zu wecken und die Kinder zu motivieren, nun erst recht einen Blick in das Buch zu werfen. Mit den beiden Schauspielern, die das Mädchen Momo und ihren Freund, den Fremdenführer Gigi spielen, war die Regisseurin selbst in vielen Schulen von Damaskus zu Besuch.

"Uns war nicht klar, welche Vorstellungen diese philosophische Geschichte über die Schönheit und den Wert der Zeit bei den Kindern auslösen würde", erzählt Nora Murad, "aus der Perspektive eines Erwachsenen wird die Phantasie der Kinder sehr leicht unterschätzt."

Sie entschied sich deshalb, die Schlüsselszene im Klassenzimmer von 30-40 Kindern vorzutragen und die Kinder gleich selbst in das Spiel mit einzubeziehen. Im Anschluss wurden die Kinder gefragt, wie sie selbst in der Rolle von Momo gehandelt hätten – und der Funke des Theaterspielens, der Fantasie sprang sofort über: "Bei "Momo" fühlen sich die Kinder direkt angesprochen und ernst genommen".

Ann-Katrin Gässlein

© Qantara.de 2005

Qantara.de
Ägypten
Wir sind auch wer!
Bei einem ägyptisch-deutschen Workshop in Kairo sollte es um die interkulturellen Aspekte in Kinder- und Jugendbüchern gehen. Diskutiert wurde aber vor allem eines: Die Krise der ägyptischen Kinderliteratur. Aus Kairo informiert Jürgen Stryjak.

Literaturvermittlung
Unter dem Dach des Baobab
Seit mehr als zwei Jahrzehnten setzt sich Helene Schär für die Vermittlung eines differenzierten Bildes von Menschen aus fremden Gesellschaften und Kulturen in der Kinder- und Jugendliteratur ein. Sie ist Mitbegründerin des Kinderbuchfonds Baobab. Eva Massingue hat mit ihr gesprochen.

Mohieddin Ellabbad
Das Notizbuch des Zeichners
Der Ägypter Mohieddin Ellabbad gehört zu den großen Buchillustratoren und Zeichnern in der arabischen Welt. Seine Werke erscheinen auch im Westen und wurden dort mehrfach preisgekrönt. Jürgen Stryjak besuchte den Künstler in seinem Atelier im Kairoer Stadtteil Heliopolis.

Dossier: Deutsch-arabischer Literaturaustausch
Die Literatur ist immer ein zentrales Medium des Kulturdialogs. Dabei sind es oft Aktivitäten, die im Kleinen, ja Verborgenen stattfinden: Übersetzer und Verleger, die sich am Rande des Existenzminimums um die geliebte fremde Kultur verdient machen. Wir präsentieren deutsche und arabische Initiativen.

www
Goethe-Institut Damaskus
Weitere Informationen über das Projekt "Momo" sowie eine Fotos aus den Schulaufführungen sind unter www.leishtroupe.com zu finden.
Dar Al-Fikr (engl./arab.)