Schlag und Gegenschlag

Die Rückeroberung Tikrits soll für die irakische Armee das werden, was Kobanê für die Kurden bedeutet: Trendwende und Motivationsschub zugleich. Aus Bagdad informiert Birgit Svensson

Von Birgit Svensson

Fast täglich muss Haider al-Abadi irgendwo schlichten, besänftigen oder ausgleichen. Der irakische Premierminister ist derzeit nicht zu beneiden. Er kämpft an allen Fronten. Und das nicht nur gegen die immer brutaler werdende Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), die alle Iraker "Daesh" nennen.

Abadi muss auch mit dem innerpolitischen Scherbenhaufen fertig werden, den sein Vorgänger Nuri al-Maliki hinterlassen hat. Er muss die Scherben nicht nur aufkehren, sondern sie auch wieder zusammensetzen. Die Einheit Iraks steht auf der Kippe. Gelingt es Abadi nicht, die unterschiedlichen Volksgruppen einem Mosaik gleich zusammenzufügen, fällt das Land gänzlich auseinander. Denn Maliki hatte es geschafft, alle gegen sich und gegeneinander aufzubringen.

Teile und herrsche

Teile und herrsche war Malikis Parole. Und dafür war ihm jedes Mittel recht: Mit den Kurden zerstritt sich der schiitische Premier wegen des Öls; die Sunniten ließ er nicht an der Macht teilhaben; die Turkmenen wurden der Zugehörigkeit zur Türkei beschuldigt, die eine feindliche Politik gegen Bagdad betreiben würde; Minderheiten wie Christen, Jesiden, Shabak und Mandäer wurden an den Rand gedrängt und schlicht ignoriert.

Doch erst als die eigenen schiitischen Koalitionspartner ebenfalls Streit mit Maliki bekamen, wurde der Weg frei für Abadi, den potentiellen Versöhner. In der Zwischenzeit hatte "Daesh" den Norden des Landes im Blitzkrieg überrollt und einen eigenen, der Scharia verpflichteten Staat ausgerufen, den sie Kalifat nennen. Der Irak drohte im Chaos zu versinken.

Neun Monate später begann nun die erste große Militäroffensive zur Rückeroberung der von "Daesh" besetzten Gebiete und zur Auflösung des Kalifats. Die gedemütigte irakische Armee muss sich jetzt beweisen. Ihre Soldaten waren in Scharen vor dem Heranrücken der finsteren, schwarz gekleideten Barbaren davongelaufen, deren Schreckensbotschaften aus dem Internet Wirkung zeigten.

Die Mongolen von Euphrat und Tigris

Szenen wie aus der Zeit der Mongolen wiederholten sich zwischen Euphrat und Tigris. Die bloße Kunde über ihre Gräueltaten trieb die Menschen in die Flucht. Panisch ließen sie alles zurück, nur um ihre Haut zu retten: Soldaten wie Zivilisten. Selbst die kurdischen Peschmerga, was übersetzt soviel wie "die dem Tod ins Auge sehen" heißt, nahmen zunächst Reißaus, als im August 2014 ein Angriff auf die Kurdengebiete erfolgte.

Haider al-Abadi bei einer Pressekonferenz der iraksichen Armee bei Samarra; Foto.picture-alliance/EPA
Testfall für die Rückeroberung Mossuls, der zweitgrößten irakischen Stadt: Für die Offensive gegen den IS in Tikrit hat die Regierung Haider al-Abadi 30.000 Mann mobilisiert. Die Mehrheit von ihnen gehört schiitischen Milizen an, die mit dem ebenfalls schiitischen Iran verbunden sind.

Doch sie fingen sich schneller als die irakische Armee und begannen schon im Dezember mit der Rückeroberung der Jesiden-Region um Sindschar. Gleichwohl ist die Stadt selbst noch immer teilweise in der Hand von "Daesh". Doch herrscht in der Kurdenmetropole Erbil die Zuversicht, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis man die mit brachialer Gewalt um sich schlagende Horrorbande vernichtend schlagen werde. Die von den Kurden gewonnene Schlacht um Kobanê war hierfür eine psychologische Trendwende.

Gut und böse

Es ist denn auch die Moral der Truppe, an der derzeit intensiv gearbeitet wird. Auf der gerade zu Ende gegangen "Messe für Verteidigung und Sicherheit" in Bagdad, wie die Ausstellung militärischer Geräte, Waffen und Munition elegant genannt wurde, geriet ein General der irakischen Armee innerhalb von Sekunden in Rage, als die Frage nach Gut und Böse in seinem Land aufgeworfen wurde. Alle Iraker seien gut, erklärte er in voller Lautstärke. Die Bösen kämen von außen – aus Europa, Amerika, Saudi-Arabien, Tschetschenien.

Dass die Führung von "Daesh" alle Iraker sind und ein großer Teil der Kämpfer auch, wollte er nicht gelten lassen. Es darf nicht sein, dass Iraker gegen Iraker kämpfen, wie schon einmal 2006/07 und 2008. Damals brachten sich Sunniten und Schiiten gegenseitig um, Nachbarn töteten Nachbarn. Die Scham darüber steckt noch tief im Bewusstsein. Das dürfe nie wieder geschehen, hört man allenthalben. Und so kann nicht sein, was nicht sein darf. Für den Zusammenhalt der unterschiedlichen Volksgruppen Iraks scheint es deshalb von Vorteil, dass immer mehr Ausländer in den Reihen von "Daesh" kämpfen, so zynisch das auch klingen mag.

Saddam Husseins Grabmahl in al-Audscha, bei Tikrit, Foto: Birgit Svensson
Saddam Husseins Grabmahl in al-Audscha, bei Tikrit: Ausgerechnet Saddams einstiger Erzfeind, der Iran, will nun dessen Heimatstadt erobern? Eine Million Tote hatte der acht Jahre dauernde Krieg zwischen beiden Ländern in den 1980er Jahren gefordert, bis ein militärisches Patt ihn schließlich beendete. Damals erklärte sich jeder zum Sieger.

Tikrit soll nun für die irakische Armee das werden, was Kobanê für die Kurden bedeutet: Trendwende und Motivationsschub zugleich. Bleibt nur zu hoffen, dass es nicht genauso lange dauert, um die Stadt am Tigris zurückzuerobern wie Kobanê an der syrisch-türkischen Grenze. Monatelang gingen die Kämpfe dort hin und her. Schlag und Gegenschlag wechselten sich ab.

Militärisches Schlachtfeld Tikrit

Bei aller Unterschiedlichkeit im bisherigen Verlauf der Kampfhandlungen, ist die Ausgangslage doch zu vergleichen. In beiden Städten waren die meisten Zivilisten geflohen. So ist auch Tikrit fast leer. Viele zivile Opfer sind also nicht zu erwarten. Es ist ein militärisches Schlachtfeld.

Doch auch hier gibt es Probleme mit Ausländern – und zwar nicht nur in den Reihen von "Daesh", sondern auch der Regierungstruppen. Zur Verstärkung der irakischen Armee haben sich diverse Schiitenmilizen gebildet, die nach dem Aufruf des Großajatollahs Sistani aus dem für Schiiten heiligen Nadschaf das "Vaterland und die heiligen Stätten" verteidigen sollen.

Dazu gehört nicht eben Saddam Husseins Heimatstadt Tikrit, wohl aber die Stadt Samarra, südlich davon. Doch immer häufiger dringen Informationen nach außen, wonach Iran massiv in die Kämpfe eingreifen soll. Das Nachbarland unterstütze nicht nur irakische Schiitenmilizen wie die Badr-Brigaden, "Asaib al-Haq" oder die irakische Hizbollah mit Panzerabwehrgewehren "made in Iran", sondern entsende auch selbst militärisches Gerät und Kommandeure.

Qassem Soleimani, der berüchtigte Oberbefehlshaber der iranischen Republikanischen Garde, soll sein Befehlsstand in Samarra aufgeschlagen haben, iranische Panzer sollen sich im Einsatz in Tikrit befinden und derzeit die Stadt umkreisen.

Ausgerechnet Saddams Erzfeind will nun dessen Stadt erobern? Eine Million Tote hatte der acht Jahre dauernde Krieg zwischen beiden Ländern in den 1980er Jahren gefordert, bis ein militärisches Patt ihn schließlich beendete. Damals erklärte sich jeder zum Sieger.

Dass es der gerade begonnenen Aussöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsparteien nicht dienlich ist, wenn die Schlacht um Tikrit von Iranern geführt wird, hat Premierminister Abadi erkannt. Demonstrativ verkündet er derzeit fast stündlich in den Medien, dass die von ihm befohlene Militäroperation unter einem rein irakischen Kommando geführt werde, mit Hilfe der internationalen Allianz. Dazu zählt für ihn wohl auch der Iran.

Birgit Svensson

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