Was tun gegen häusliche Gewalt?
Die Mutter hatte gedrängt und so stattete Tiba Ali ihrer Familie einen Besuch ab. Dafür verließ sie die Türkei, wo sie seit geraumer Zeit lebte, und reiste zurück in ihr Heimatland Irak. Dort starb sie Ende Januar - erwürgt von ihrem Vater, wie dieser nach der Tat gestand.
Tiba Ali hatte sich in der Türkei einen Namen als Bloggerin gemacht. Auf ihrem Kanal berichtete sie über das vergleichsweise liberale Leben in der neuen Heimat. Außerdem hatte sie vor, einen syrischen Freund zu heiraten. Ihr Vater war gegen diese Bindung.
Unmittelbar nach dem Mord an der jungen Frau gingen in Bagdad irakische Frauenrechtlerinnen auf die Straße. Sie forderten die lokalen Behörden auf, Frauen besser zu schützen und endlich ein Gesetz gegen häusliche Gewalt zu erlassen. Zwar ist ein solches Gesetz bereits entworfen. Doch seit Jahren hängt es parlamentarisch in der Schwebe. Doch selbst wenn es im Irak ein solches Gesetz gäbe: Hätte es Tiba Ali und die vielen anderen Opfer familiärer Gewalt und sogenannter "Ehrenmorde" retten können?
Women in our societies are hostage to backward customs due to the absence of legal deterrents & gov measures - which currently are not commensurate with the size of domestic violence crimes. Yes to legislating the Anti-Domestic Violence Law. #طيبة_العلي
— Ala Talabani آلا طالباني (@TalabaniAla) February 2, 2023
"Ich glaube nicht, dass ein Gesetz die Gewalt gegen Frauen im Irak völlig verhindern würde, aber es könnte sie reduzieren", sagte Kholoud Ahmad, eine irakische Journalistin in Bagdad, gegenüber der Deutschen Welle (DW). "Wenn die Leute wüssten, dass sie für die Taten bestraft werden können, oder wenn Frauen in Schwierigkeiten einen Ort hätten, den sie aufsuchen könnten, würde das helfen", sagte sie. "Im Moment hat man aber das Gefühl, dass es keine ernsthafte Bestrafung gibt."
Im Irak sind Frauen in Beruf und Öffentlichkeit zwar durchaus präsent. Doch es gibt kein Gesetz, das sich speziell mit häuslicher Gewalt befasst. Stattdessen bieten die geltenden Gesetze jedem, der ein weibliches Familienmitglied schlägt oder tötet, eine Reihe von Schlupflöchern, die es möglich machen, einer Strafverfolgung zu entgehen.
Gesetze benachteiligen Frauen
Paragraph 398 des irakischen Strafgesetzbuchs besagt, dass bei einem sexuellen Übergriff das Verfahren eingestellt wird, wenn der Vergewaltiger zustimmt, das Opfer zu heiraten. Ein anderer Teil des Strafgesetzbuchs, Artikel 409, sieht für den Fall, dass ein Ehemann seine Frau in Reaktion auf deren Ehebruch tötet, eine Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis vor.
Auch Paragraph 41 benachteiligt Frauen gesetzlich - hier heißt es: "Es liegt kein Verbrechen vor, wenn die Tat in Ausübung eines gesetzlichen Rechts begangen wird". Zu diesen gesetzlichen Rechten im Irak gehört demnach "die Bestrafung einer Ehefrau durch ihren Ehemann ... innerhalb bestimmter Grenzen, die durch das Gesetz oder den Brauch vorgeschrieben sind."
In einer Erklärung zu Alis Tod forderten die Vereinten Nationen im Irak die irakische Regierung auf, einige dieser Artikel im Strafgesetzbuch aufzuheben. "Im Irak gibt es keinen zentralen und wirksamen Meldemechanismus für Opfer und Überlebende von häuslicher Gewalt oder sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt", sagt Razaw Salihy, Irak-Referentin bei Amnesty International.
Um Anzeige zu erstatten, hätten irakische Frauen nur zwei Stellen, an die sie sich wenden können, so Salihy. Beide seien aber nicht gesetzlich verankert. "Frauen und Mädchen, die bei der Polizei einen Vorfall gemeldet haben, leben meist weiterhin im Heim ihrer Familie, da es keine Frauenhäuser gibt. Aus Angst vor Konsequenzen verzichten die meisten darum auf eine Anzeige."
Hohe Dunkelziffer vermutet
Entsprechend schwierig ist es, verlässliche Zahlen über häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen im Irak zu erhalten. Offizielle Statistiken sprechen von rund 15.000 Fällen häuslicher Gewalt jährlich. Schenkt man diesen Zahlen Glauben, ist die Rate relativ zur Bevölkerung auch im Vergleich zu den europäischen Ländern nicht sonderlich hoch.
Ein Großteil der Gewalttaten dürfte den Behörden allerdings aufgrund gesellschaftlicher Tabuisierung gar nicht zur Kenntnis kommen. Jüngsten Umfragen verschiedener Organisationen der Vereinten Nationen zufolge würden rund 75 Prozent der Frauen häusliche Gewalt nicht als Verbrechen anzeigen. Außerdem erklärten 85 Prozent der irakischen Männer, sie würden weibliche Familienmitglieder davon abhalten, solche Verbrechen zur Anzeige zu bringen.
Selbst wenn es um die offensichtlichste Gewalt gegen Frauen geht - wie etwa im Fall sogenannter "Ehrenmorde" - ist es schwer zu ermitteln, wie viele irakische Frauen davon betroffen sind. Denn die Statistiken enthalten oft auch Fälle von Frauen, die angeblich durch Selbstmord oder nach einer Selbstverbrennung starben. Aktivisten zufolge nutzen Familien solche Begriffe häufig, um Morde zu vertuschen. Die örtlichen Behörden würden dies meist akzeptieren, so die Aktivisten.
"Gesetze allein können die kulturellen Einstellungen nicht ändern", schrieb die britisch-kurdische Aktivistin Ruwayda Mustafah im März 2022 in einem Beitrag für das Washington Institute for Near East Policy. "Damit sich die kulturellen Einstellungen ändern, braucht unsere Gesellschaft einen nationalen Dialog, der das Thema offen anspricht." Der Irak brauche sowohl gesetzliche als auch gesellschaftliche Veränderungen, so Mustafah.
Remembering Taiba al-Ali, who was brutally murdered by her own father. The Government of Iraq needs to address domestic and gender based violence. There must be no more impunity. Germany will always remain committed to the protection of women. pic.twitter.com/rVPJbnvx3I— German Embassy in Baghdad (@GermanyinIraq) February 7, 2023
Die Kurdenregion als Vorbild?
Irakisch-Kurdistan - eine halbautonome, überwiegend von Kurden bewohnte Region im Norden des Irak mit eigenem Parlament, Militär und eigener Justiz - geht in dieser Hinsicht mit gutem Beispiel voran. Die Region hat für derartige Gewaltverbrechen deutlich strengere Gesetze. Bereits 2011 wurde dort das "Gesetz zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt" verabschiedet. Dieses Gesetz sieht lebenslange Haftstrafen für sogenannte "Ehrenmorde" vor. Auch in anderen Fragen, etwa weiblicher Genitalverstümmelung, hat hier bereits vor längerer Zeit ein zumindest partielles Umdenken eingesetzt.
Dennoch gingen die offiziellen Zahlen für häusliche Gewalt und Femizide auch in Irakisch-Kurdistan nicht zurück. Im Gegenteil: Während der COVID-19-Pandemie, also in den Jahren 2020 und 2021, stiegen sie sogar an.
Dennoch sei im Jahr 2021 in der Kurdenregion kein einziger Fall von Femizid vor dem städtischen Gerichtssystem verhandelt worden, so die Frauenorganisation für Rechtsbeistand (Women's Organization for Legal Assistance, WOLA).
Verzögerungen im Justizsystem führten zudem häufig dazu, dass Klägerinnen ihre Anzeige fallen ließen, so WOLA. Verbrechen gegen Frauen hätten leider keine Priorität, heißt es in einem Papier der Organisation.
Ermittlungen würden dagegen mit größerer Dringlichkeit geführt, wenn ein Mann einen anderen Mann töte, erklären andere Aktivisten. Morde und andere Verbrechen werden demnach meist nach dem traditionellen, patriarchalischen Stammesrecht geklärt. Dabei entscheiden die Ältesten zweier Clans, was eine angemessene Entschädigung für das Fehlverhalten wäre.
Das Strafmaß für häusliche Gewalt oder einen Frauenmord kann dann auch davon abhängen, wie mächtig die Stammes- oder politischen Verbindungen des Angeklagten sind.
Hoffen auf kulturellen Wandel
Niemand wisse mit Sicherheit, ob der YouTube-Star Tiba Ali heute noch am Leben wäre, wenn es im Irak ein Gesetz gegen häusliche Gewalt gegeben hätte, sagt Razaw Salihy von Amnesty International. "Allerdings können wir davon ausgehen, dass es mehr Opfer geben wird, wenn die Apathie des Staates anhält und die Täter weiterhin geschützt werden", erklärt Salihy gegenüber der DW: "Wie bei allen Menschenrechtsfragen wird eine Änderung allein nicht hinreichend sein. Bislang aber haben sich die irakischen Behörden geweigert, auch nur einen Schritt zu tun."
Natürlich stünden einem Wandel enorme kulturelle Hindernisse entgegen. "Aber die Aufgabe, diesen Wandel herbeizuführen, wird durch frauenfeindliche Gesetze oder fehlende Gesetze zum Schutz von Frauen behindert", schloss sie.
Und doch gibt es Hoffnung, dass sich die Einstellungen zu häuslicher Gewalt ändern könnten. Nicht nur Initiativen junger Künstlerinnen und Schauspielerinnen deuten darauf hin - sondern auch eine Umfrage des in Bagdad ansässigen Thinktanks "Al-Bayan Center for Planning and Studies" aus dem Jahr 2020 über ein damals geplantes Gesetz gegen häusliche Gewalt. Demnach unterstützen 89 Prozent der Befragten das geplante Gesetz, 95 Prozent sahen das Schlagen der eigenen Frau als strafrechtlich zu ahndendes Verbrechen an. Rund 77 Prozent der Befragten, die diese Ansichten vertraten, waren zwischen 18 und 29 Jahre alt.
Cathrin Schaer
© Deutsche Welle 2023
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.