Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen
In Bangladesch macht sich ein immer größeres Gefühl der Unsicherheit breit. In den vergangenen 14 Monaten wurden bei Angriffen militanter Gruppen mindestens 35 Menschen getötet und 129 verletzt. Unter den Opfern waren Angehörige religiöser Minderheiten, eine ganze Reihe von Online-Aktivisten, Blogger, bekennende Atheisten, Herausgeber, ein Aktivist für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen sowie ein Universitätsprofessor.
Viele dieser Morde fanden in der Öffentlichkeit statt. In einigen Fällen wurden die Opfer mit Macheten zu Tode gehackt. Der sogenannte "Islamische Staat" (IS) hat für 15 dieser Morde die Verantwortung übernommen, der bengalische "Al-Qaida-Ableger "Al-Qaida auf dem Indischen Subkontinent" (AQIS) bekennt sich zu acht Taten. Mittlerweile sind viele Blogger außer Landes geflohen. Und die, die geblieben sind, sind verstummt.
Der Staat schaut weg
Trotz dieser Häufung von Taten, der Bekenntnisse länderübergreifender Terroristengruppen und dem klar erkennbaren Motiv, Befürworter unorthodoxer Ansichten zu attackieren, leugnet die Regierung nach wie vor die Existenz von AQIS und IS in Bangladesch. Im Gegenteil: Die eigentlich säkulare Regierung hat in jüngerer Zeit ihre Haltung gegenüber Bloggern und Andersdenkenden insgesamt verändert.
Im vergangenen Jahr haben Regierungspartei und Exekutivorgane quasi alle Schuld den Bloggern selbst zugeschoben. Und noch nach dem brutalen Mord am Social-Media-Aktivisten Nazimuddin Samad im April 2016 kündigte Bangladeschs Innenminister an, die Regierung werde seine Beiträge genau überprüfen, um herauszufinden, ob er islamkritische Inhalte verfasst habe. Er fragte wörtlich: "Warum benutzen die Blogger so eine Sprache gegen das religiöse Establishment? In unserem Land ist eine solche Sprache nicht erlaubt. Das ist gesetzlich festgeschrieben."
Vorbei sind die Tage, da die Premierministerin zum Haus eines ermordeten Bloggers eilte und ihn zum Märtyrer erklärte - so wie Sheikh Hasina es noch im Februar 2013 nach dem Mord an Rajib Haider getan hatte. Heute erklärt Sheikh Hasina, die "Regierung erlaube es niemandem, religiöse Gefühle zu verletzen".
Wenn die Premierministerin sagt, dass die Regierung keinerlei Verantwortung für diese "bedauerlichen Vorfälle" übernimmt, dann ist das eine deutliche und furchteinflößende Botschaft. Diese Entwicklungen haben zwei Fragen aufgeworfen: Warum kommt es zu diesen Morden? Und warum ist die Regierung nicht gewillt oder unfähig, etwas dagegen zu tun?
Atmosphäre der Angst und Straflosigkeit
Der Hauptgrund für die Vielzahl von Tötungen ist die Straflosigkeit. Trotz der Flut von Vorfällen, trotz öffentlicher Aufregung und lauter Kritik im In- und Ausland wurden die Täter bislang nicht vor Gericht gebracht. Nur in einem Mordfall an einem Blogger wurde ein Urteil gesprochen. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass es in den vergangenen Jahren gegen gewalttätige Aktivisten der regierenden Partei kaum Strafverfolgung gab. Das Vertrauen der Bevölkerung in Justiz und Strafverfolgungsbehörden erodierte so immer mehr. Und genau hier sehen militante Gruppen ihre Chance.
Es überrascht nicht, dass internationale Terrororganisationen versuchen, Menschen für ihre Ideen zu gewinnen. Und es gelingt ihnen bereits. Zu den Angriffszielen gehören nicht nur Intellektuelle, Atheisten und Freidenker. Auch die Anzahl außergerichtlicher Tötungen und Entführungen hat dramatisch zugenommen. Politisch motivierte Gewalt, insbesondere das Gerangel unter den verschiedenen Fraktionen der Regierungspartei, ist in Bangladesch zur Routine geworden.
Auch das Recht auf freie Meinungsäußerung wurde in den vergangenen Jahren immer mehr eingeschränkt, vor allem seit den umstrittenen Parlamentswahlen im Jahr 2014. Berechtigte Kritik wertet die Regierung als Bedrohung. Kritiker werden per Gesetz zum Schweigen gebracht. All dies hat zur Atmosphäre von Angst und Straflosigkeit beigetragen.
Für die politische Landschaft in Bangladesch sind militante Gruppen kein neues Phänomen. Doch das jüngste Wachstum und die Radikalisierung der gewalttätigen extremistischen Gruppen ist auf die tiefe Spaltung innerhalb der Gesellschaft zurückzuführen. Seit Jahrzehnten existieren unterschiedliche Ansichten über Religion, Politik und Öffentlichkeit in Bangladesch. Aber der Streit darüber wird immer schärfer geführt.
Neue islamistische Gruppen sind entstanden - zu einer Zeit, wo der Raum für öffentliche Debatte über die Trennung von Religion und Staat immer kleiner wird. Vor dem Kriegsverbrechertribunal laufen aktuell Prozesse. Und die Islamistenpartei Jamaat-e-Islami (JI) setzt auf Gewalt, um ihre Führungskräfte vor dem Tribunal zu retten. All diese Faktoren haben ein günstiges Umfeld für militante Gruppen geschaffen.
Warum handelt die Regierung nicht?
Viele Menschen sind über die Haltung der Regierung überrascht. Sie fragen sich, warum die regierende Awami-Liga, die sich zum Säkularismus bekennen will, nicht in der Lage oder vielleicht auch nicht willens ist, etwas gegen die islamistischen Umtriebe zu tun.
Die Antwort muss in einem breiteren politischen Kontext gesehen werden: Nach den umstrittenen Wahlen von 2014 kam eine Regierung an die Macht, der von Anfang an die moralische Legitimität fehlte. In den vergangenen Jahren setzte sie vermehrt auf Gegengewalt, eine wachsende Zahl von Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren und auf repressive Maßnahmen gegen die Opposition. Das staatliche Demokratieverständnis lässt immer mehr zu wünschen übrig. Zugleich glaubt die Regierung jedoch, islamistische Gruppen besänftigen zu müssen. Sie will weder als anti-islamisch noch als Unterstützerin des Atheismus betrachtet werden und hat sich daher vielen islamisch-konservativen Forderungen angeschlossen, um ihren eigenen islamischen Charakter unter Beweis zu stellen. Dadurch hat sie in säkularen Kreisen viel an Glaubwürdigkeit verspielt.
Gebotene Vorsicht
Die jüngste Mordserie ist äußerst besorgniserregend. Setzt sich die Situation fort, werden sich diejenigen ermutigt fühlen, die diese abscheulichen Verbrechen begangen haben. Worte und Taten der Regierung zeigen, dass sie auf eine Art "Verweigerungsmodus" umgeschaltet hat. Damit ist der Krieg gegen den wachsenden Radikalismus nicht zu gewinnen. Es ist dringend erforderlich, jetzt Anti-Terror-Maßnahmen zu stärken.
Drakonische Maßnahmen, die sich in erster Linie allein gegen die politischen Gegner richten, werden die Situation gewiss nur verschlimmern - sie sind nichts weiter als Wasser auf die Mühlen der Militanten. Die Regierung muss endlich gegensteuern: die gesellschaftliche Polarisierung abbauen, Toleranz fördern und Rechtsstaatlichkeit gewährleisten. Nur wenn landesweit über diese Handlungsoptionen Einigkeit herrscht, kann der Extremismus besiegt werden.
Ali Riaz
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