Befeuert der saudische Wahhabismus den Aufstand?
Die "International Crisis Group" (ICG) berichtete kürzlich, eine Gruppe muslimischer Rohingya, die im Oktober Polizeiposten in Myanmar angegriffen hatten, unterhielten Verbindungen zu Saudi-Arabien und Pakistan.
Bei den Angriffen wurden neun Polizisten getötet. Die Sicherheitskräfte führten daraufhin im Rakhaing-Staat eine Militäroperation durch. Der Rakhaing-Staat ist eine mehrheitlich muslimisch geprägte Verwaltungseinheit im Nordwesten Myanmars. Bei der Militäroperation wurden nach Berichten 86 Menschen getötet. 27.000 Angehörige der größtenteils staatenlosen Rohingya flohen über die Grenze nach Bangladesch.
Die Gruppe "Harakah al-Yakin" (HaY) reklamierte den Anschlag auf die Polizisten für sich. Die HaY hatte sich 2012 nach gewalttätigen Aufständen gegründet. Laut der in Brüssel ansässigen ICG belegen Gespräche mit Mitgliedern der Gruppe, dass die HaY Verbindungen zu Saudi-Arabien und Pakistan unterhält. Nach Erkenntnissen der ICG wurden Rohingya von Landsleuten, die bereits in anderen Ländern als Kämpfer eingesetzt worden waren, ebenso wie von Pakistanern und Afghanen schon seit mehr als zwei Jahren heimlich trainiert.
Die Trainings umfassten die Ausbildung an der Waffe und in Guerillataktiken. Wie Mitglieder der HaY-Gruppe und Trainingsteilnehmer berichteten, zählte auch die Unterrichtung zum Bau von selbstgebauten Sprengkörpern dazu. Der führende Kopf der HaY ist nach Angaben der ICG Ata Ullah. Er wurde als Sohn eines Rohingya im südpakistanischen Karatschi geboren und zog später als Kind weiter nach Mekka in Saudi-Arabien. "Wir nehmen an, dass er nach Pakistan und möglicherweise in andere Länder reiste und sich dort in der modernen Guerilla-Kampfführung ausbilden ließ", so die ICG.
Islamistische Gruppen, wie die Taliban, der "Islamische Staat" (IS) und Al-Qaida, verurteilen regelmäßig die Gewalt gegen die Rohingya in Myanmar und rufen zum Dschihad gegen die Behörden und die buddhistische Mehrheit auf.
Der ehemalige Leiter des Asienprogramms der ICG, Tim Johnston, spricht im Interview über die Erkenntnisse des Berichts und den wachsenden Einfluss des saudischen Wahhabismus unter den Rohingya.
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Herr Johnston, legt der ICG-Bericht Verbindungen zwischen dem Rohingya-Aufstand und Saudi-Arabien sowie Pakistan offen? Worauf stützen sich Ihre Erkenntnisse?
Tim Johnston: Neben anderen Quellen haben wir mit mehreren Personen aus der für die Angriffe verantwortlichen Gruppe gesprochen. Es liegen uns deutliche Hinweise dafür vor, dass die führenden Köpfe der "Harakah al-Yakin" in Saudi-Arabien sitzen, und zwar vornehmlich in Mekka und Medina. Soweit wir wissen, gehören übrigens alle den Rohingya an. Außerdem wurde uns berichtet, dass Ata Ullah, eine der dortigen Führungspersonen, in Karatschi geboren wurde und später nach Saudi-Arabien gezogen ist. Einige der Kämpfer wurden offenbar in Pakistan oder Afghanistan ausgebildet. Die genauen Details konnten wir allerdings nicht ermitteln.
Lassen Ihre Erkenntnisse den Schluss zu, dass die saudisch-wahhabitische Auslegung des Islam auch den islamischen Extremismus unter den Rohingya befeuert?
Johnston: Da die Führungspersonen in Saudi-Arabien leben, liegt es auf der Hand, dass sie wahhabitisch geprägt sind. Wir glauben allerdings nicht, dass dies die treibende Kraft hinter dem neuen Aufstand ist. Der Aufstand speist sich weniger aus der dschihadistischen Ideologie als vielmehr aus dem Zorn über die Behandlung der Rohingya im Rakhaing-Staat. Auch wenn sich die Bewegung auf Fatwas stützt und eine Reihe islamischer Gelehrter hinter ihr steht, gewinnt sie ihre Kraft doch eher aus dem regionalen Konflikt und nicht aus transnationalen dschihadistischen Netzwerken wie IS oder Al-Qaida.
Wie steht die Regierung von Myanmar zur Mitwirkung einiger Rohingyas in internationalen dschihadistischen Gruppen? Wie geht man damit um?
Johnston: Es gibt zwar einige Rohingya-Kämpfer unter internationalen dschihadistischen Gruppen, wie dem IS. Diese wurden aber offenbar außerhalb von Myanmar radikalisiert und stellen aktuell nicht die Hauptbedrohung dar. Es ist nicht klar, inwieweit die Regierung eine transnationale dschihadistische Gefahr für Myanmar sieht. Eine solche Bedrohung existiert ganz eindeutig, sollte aber nicht mit der HaY in einen Topf geworfen werden. Deren Führungspersonen sitzen zwar im Ausland und haben daher auch Zugang zu Geldern, ideologischer Rückendeckung und Ausbildungsmöglichkeiten. Doch der Kern des Problems – und auch der Lösung – liegt im Rakhaing-Staat selbst.
Glauben Sie, dass die Behörden von Myanmar die Verbindungen der Rohingya nach Saudi-Arabien und Pakistan zur Rechtfertigung ihrer Militäroperationen gegen diese Minderheit nutzen könnten?
Johnston: Für Angriffe auf Zivilisten oder für die Weigerung, diese zu schützen, darf es keine Rechtfertigung geben. Bislang haben die Behörden von Myanmar die Verbindung der Aufständischen ins Ausland nicht intensiv zur Rechtfertigung ihrer Militäroperation genutzt. Weltweit gibt es allerdings den Trend, eigene Probleme, die man selbst nicht zu lösen vermag, auf angebliche ausländische Einflüsse zurückzuführen. In diesem Fall wäre das ein Fehler, da einige der HaY-Verantwortlichen zwar im Ausland leben, die Ursachen des Problems aber im Rakhaing-Staat liegen.
Derartige Verfolgungen könnten weitere Rohingya dazu veranlassen, sich islamistischen Gruppen anzuschließen. Was könnte Ihrer Meinung nach diesen Trend stoppen?
Johnston: Wir befürchten, dass die gewaltsame und willkürliche Überreaktion auf die Angriffe am 9. Oktober dazu angetan ist, den Aufstand zu befeuern. Selbstverständlich ist die Regierung dazu verpflichtet, die Sicherheit zu schützen. Eine reine sicherheitstechnische Antwort ist unserer Meinung nach allerdings nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern könnte das Problem sogar verschlimmern. Jede langfristige Lösung muss politischer Natur sein. Daher muss die Regierung die eigentlichen Ursachen der Unzufriedenheit beseitigen, die junge Rohingya in den Aufstand treibt. Die Ursachen speisen sich aus der langjährigen Diskriminierung, der Abkopplung vom politischen Prozess in Myanmar, der Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der fehlenden Hoffnung auf eine Besserung der Lage in absehbarer Zukunft.
Wie lässt sich der Aufstand vom humanitären Aspekt des Rohingya-Konflikts trennen?
Johnston: Es ist ganz wichtig, den Aufstand vom humanitären Aspekt des Rohingya-Konflikts zu trennen. Auch wenn sich die HaY auf eine gewisse Rückendeckung in der Bevölkerung stützen kann, wird eine kollektive Bestrafung die Gewaltbereitschaft gegenüber der Regierung nur noch steigern. Dass Hilfseinrichtungen beispielsweise nicht gestattet wird, Lieferungen zur Linderung der chronischen Lebensmittelnot durchzuführen, ist eine derartige kollektive Bestrafung. Wenn Hilfsorganisationen und Journalisten keinen Zugang zur Region haben, schafft die Regierung eine intransparente Lage. Dies ermöglicht den Regierungsgegnern erst recht, die eigene Sicht der Dinge zu verbreiten und zur Gewalt anzustacheln.
Das Interview führte Shamil Shams.
© Deutsche Welle 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers