Machtvakuum am Nil

Nach der Absetzung des ägyptischen Präsidenten hält das Tauziehen um die Macht im Staat an. Weder konnte man sich bislang auf einen Kandidaten für das Amt des Übergangsregierungschefs einigen, noch die eskalierende Gewalt eindämmen. Einzelheiten von Karim El-Gawhary aus Kairo.

Von Karim El-Gawhary

Ägypten ist dabei, ein unregierbares Land zu werden und es wird immer deutlicher, dass die Absetzung Mohammed Mursis durch die Militärs die Polarisierung des Landes verschärft hat.

Das zeigt sich nicht nur darin, dass die Muslimbrüder und deren Gegner weiterhin auf der Straße mobilisieren und dass ironischerweise beide das im Namen der Legitimität tun. Die Muslimbrüder und ihre Anhänger halten in ihren Protesten die Legitimität des gewählten Präsidenten Mohammed Mursis hoch, der sich seit Freitag im Arrest in einer Militärkaserne Kairos befindet.

Deren Gegner rufen ihre Anhänger auf, auf die Straße zu gehen und die "Volklegitimität" zu verteidigen. Sie argumentieren, dass eine Mehrheit der Ägypter Mursi in Massendemonstrationen das Vertrauen entzogen hätte und dass das Militär dem Volk zu Hilfe gekommen sei. Gäbe es ein Unwort des Jahres in Ägypten, das Wort "Legitimität", dass nun von allen Seiten benutzt wird, hätte gute Chancen das Rennen zu machen.

Das politische Aus für ElBaradei

Mohammed ElBaradei; Foto: Reuters
Im politischen Abseits: Ursprünglich sollte der liberale Friedensnobelpreisträger Mohammed ElBaradei Ministerpräsident werden. Das Vorhaben scheiterte aber an der islamistischen Nour-Partei, die mit den Muslimbrüdern rivalisiert.

​​Die Suche nach einem neuen ägyptischen Regierungschef gestaltet sich unterdessen wie das Zählen von Gänseblümchen-Blättern. Es ist Mohammed ElBaradei, er ist es nicht, er ist es, er ist es nicht...Nachdem die staatliche Nachrichtenagentur zunächst vermeldet hatte, dass der ehemalige Chef der Atomenergiebehörde und Sprecher der Nationalen Rettungsfront für das Amt bestimmt worden sei, zog ein Sprecher des Präsidenten am vergangenen Samstag Abend (6.7.) die Notbremse. ElBaradei sei ein starker Kandidat, aber nichts sei bisher beschlossen. Die Konsultationen gingen weiter.

Während die "Tamarod"-Rebellenkampagne in ElBaradei einen idealen Kandidaten sieht, wird er vor allem vom der salafistischen Nour-Partei, die sich als einzige Gruppierung des politischen Islam hinter den Putsch gestellt hat, abgelehnt. Die Nour-Partei, finanziert von Saudi-Arabien, hätte für eine neue Regierung eine Vorzeigefunktion, dass zumindest Teile der Islamisten in der Übergangsperiode bis zu einer vorgezogenen Präsidentenwahl mit an Bord wären.

Enger Spielraum für den Präsidenten

Mit einer Ernennung ElBaradeis würde die ägyptische Führung von einem Extrem, nämlich Mursi, zum anderen Extrem des politischen Spektrums gereicht werden, argumentieren die Salafisten der Nour-Partei und verlangen einen besseren Konsenskandidaten. Egal, wer nun am Ende der Regierungschef sein wird, deutlich ist schon jetzt, dass dessen Spielraum innerhalb der gegenläufigen Interessen eines Regierungsbündnisses sehr eng sein wird.

Demonstration gegen die Muslimbruderschaft in Kairo; Foto: Reuters
Rote Karte für die Islamisten der Muslimbruderschaft und der Nour-Partei: "Das Volk will den Sturz der Ikhwan!": Demonstration von Gegnern des entmachteten Präsidenten Mursis in Kairo.

​​Von der Muslimbruderschaft, die sich im Moment vollkommen außerhalb des formalen politischen Systems befindet, wird nicht nur ElBaradei rundum abgelehnt. Er zählt bei ihnen nach dem Militärchef Abdel Fattah al-Sisi als die zweitgrößte Hassfigur. Aber die Muslimbrüder lehnen nicht nur den Kandidaten, sondern die gesamte Konstruktion des Übergangspräsidenten und der noch zu formenden Übergangsregierung ab. Für sie ist Mursi weiterhin der legitime Präsident.

Beabsichtigte Spaltung der Muslimbruderschaft?

Der kommissarische Präsident Adly Mansour hat die Muslimbrüder zu Gesprächen eingeladen, die diese in einer Erklärung ablehnte. Ohnehin schickt der Staat recht widersprüchliche Signale an die Muslimbruderschaft. Ihre Kader, wie am letzten Sonntag (7.7.) deren Chefstratege Cheirat El-Schater, werden verhaftet, während man ihnen gleichzeitig die Hand ausstreckt.

Ein Sprecher des Präsidenten erklärte am Samstag (6.7.) dennoch, dass man sich mit der "Muslimbruder-Jugend" in Gesprächen befinde. In welcher Form blieb jedoch unklar. Möglich ist, dass der Versuch unternommen wird, die Muslimbrüder zu spalten. Ob das gelingt oder ob diese gerade in dieser Zeit zusammenrücken, bleibt offen.

Ägyptische Soldaten auf dem Sinai; Foto: Reuters
Sicherheitsrisiko Sinai: Militante islamistische Gruppierungen treiben in diesem Gebiet bereits seit Jahren ihr Unwesen. Ihre letzten Anschläge auf Einrichtungen des Sicherheitsapparates, auf Christen und auf eine Gaspipeline, könnten Vorboten für die Zukunft Ägyptens sein, warnt El-Gawhary.

​​Hier geht es nicht um ein paar hundert Dschihadisten. Würde heute in Ägypten gewählt, könnte Mursi trotz seiner gesunkenen Popularitätskurve immer noch Millionen von Wähler auf sich vereinen. Dafür zu sorgen, dass die nicht vollkommen außerhalb des politischen Systems geraten, wird sich für die Zukunft des Landes als entscheidend erweisen.

Der Nord-Sinai – das "Somalia Ägyptens"

Das Augenmerk dürfte auch zunehmend auf den Nord-Sinai fallen. Militante islamistische Gruppierungen treiben in diesem Gebiet, das kaum unter der Kontrolle des Staates steht, nun schon seit Jahren ihr Unwesen. Man könnte den Nord-Sinai als das "Somalia Ägyptens" bezeichnen. Ihre letzten Anschläge auf Einrichtungen des Sicherheitsapparates, auf Christen und auf eine Gaspipeline, könnten Vorboten für die Zukunft Ägyptens sein.

Aber auch das Militär könnte sich den Nord-Sinai zu nutzen machen, um die Mehrheit der Ägypter hinter sich zu bringen. Seit Tagen ist in den Medien nicht nur von den dortigen Anschlägen, sondern auch von einer Verwicklung der palästinensischen Hamas die Rede, die als neuer Außengegner aufgebaut wird. Eine Militärkampagne im Nord-Sinai wäre im Moment die beste Möglichkeit, die Ägypter von den enormen politischen Problemen in Kairo abzulenken.

Offen bleibt auch, wie sich der Ramadan, der diese Woche beginnt, auf den politischen Konflikt in Ägypten auswirken wird. Zumindest das Militär dürfte darauf hoffen, dass der Fastenmonat zu einer Beruhigung der Lage führen wird. Aber auch die "Tamarod"-Bewegung und die Muslimbrüder wissen, dass es in dieser Zeit schwer sein wird, die Ägypter auf den Straßen zu mobilisieren.

So könnte sich der Ramadan bestenfalls zu einem Monat der Besinnung erweisen, in der ein Ausweg aus der politischen Krise gesucht wird. Und wenn dieser nicht gefunden wird, dann bietet er für alle Seiten eine Gelegenheit ihre Kräfte zu sammeln. Denn die werden alle brauchen, für die turbulenten Zeiten, die dem Nilland bevorstehen werden.

Karim El-Gawhary

© Qantara.de 2013

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de