Harte Realität und Hoffnungsschimmer
Siphr ist das arabische Wort für „Null“. Viele setzen die Null mit der Abwesenheit von Inhalten gleich, aber Naima Shalhoub sieht dies anders: Sie betrachtet die Null als einen Kreis, der uns alle umfasst, der alles und nichts verbindet und der sowohl den Anfang als auch das Ende enthält. Wir leben in einem ständigen Kreislauf, in dem wir alle miteinander verbunden sind.
Da Shalhoub ihr Album auf dem Konzept der Null aufbaut, hat sie jedes Stück mit einer Zahl versehen und dann Worte als Untertitel verwendet, um uns Hinweise auf Thema und Inhalt zu geben. Tatsächlich sind die Titel von eins bis neun nummeriert, und die Idee der Null als Kreis wird thematisch untersucht: „Nine (Return)“ (Neun, Rückkehr), der letzte Titel des Albums, klingt wie eine Fortführung des Eröffnungsstücks „One (Remembrance)“ (Eins, Erinnerung). Diese beiden Titel flankieren nicht nur die Aufnahme, sondern umarmen und umkreisen das gesamte Album.
Das lässt eine Harmonie offenbar werden, die bei modernen Aufnahmen nicht oft zu finden ist. Der Sinn für Einheit ist spürbar – sowohl strukturell als auch thematisch. Die Titel wirken mehr wie Sätze einer Gesamtkomposition als einfach nur wie eine Reihe von Songs, die so angeordnet wurden, dass sie den Hörern gefallen. Jedes Stück zieht uns tiefer in die Themen wie Hoffnung, Freiheit und soziale Gerechtigkeit hinein.
Amerika trifft den Nahen Osten
Siphr ist eine Mischung aus amerikanischer und nahöstlicher Musik. Shalhoub führt zwei weitere Musiker als Komponisten und Instrumentalisten an, die ihr bei der Aufnahme geholfen haben: Der Jazzmusiker und Bandleader Marcus Shelby ist an drei Stücken beteiligt, und der palästinensisch-amerikanische Produzent/Rapper/Multiinstrumentalist Excentrik (Tarik Kazaleh) hat das Album produziert, zur Komposition beigetragen, beim Video für das Stück „Two (Rivers in the Desert)“ (Zwei, Flüsse in der Wüste) Regie geführt und sogar das Cover des Albums gestaltet.
Bei einer Aufnahme mit derart eindrucksvoller Musik wie dieser dauert es eine Weile, bis man einzelne Songs findet, die hervorstechen: Ein Stück ist „Four (Roumieh Prison Blues)“ (Vier, Roumieh-Gefängnis-Blues). Für diesen Titel, der nach einem berüchtigten libanesischen Gefängnis benannt wurde, hat Shalhoub Texte verwendet, die von dort eingesperrten Männern geschrieben wurden, und daraus diesen faszinierenden Bluessong geschaffen.
Arabische Texte und zwölftaktiger Blues des Mississippi-Deltas
Vielleicht sind einige irritiert, wenn sie arabische Texte gemeinsam mit dem typischen zwölftaktigen Blues des Mississippi-Deltas hören, aber es macht Sinn: Immerhin wurden viele der großen Blues-Songs in Gefängniszellen und Arbeitskolonnen des amerikanischen Südens geboren, also ist dies der Klang des Mühsals und der Plage – unabhängig von der Sprache. Die Kadenzen der Texte passen perfekt zum synkopierten Takt der Musik. Auch wenn das Publikum die genaue Bedeutung der Texte nicht versteht, wird es kein Problem haben, ihren emotionalen Zusammenhang zu erkennen.
Dies ist allerdings nur einer der kraftvollen Songs in einem Album voller Klangwelten, die den Hörer faszinieren. Manchmal kann eine solche Aufnahme überwältigend sein und uns in Versuchung führen, uns wegen emotionaler und inhaltlicher Überforderung zurückzuziehen. Auf überzeugende Weise verhindert Shalhoub aber, dass die Aufnahme zu eintönig wird. Ihre Methoden, Themen und Ideen auszudrücken, verändern sich von Lied zu Lied.
Obwohl jeder Titel zum gemeinsamen Bild der Aufnahme beiträgt, haben alle Songs ihre eigene Geschichte und ihren jeweils einmaligen Stil. Mit anderen Worten, es ist unmöglich, sich beim Zuhören zu langweilen und versucht zu sein, sich abzuwenden. Vom Free-Jazz in „Six (Distraction Suite)“ (Sechs, Zerstörungssuite) bis hin zur einfachen Sprachgewalt von „Three (Loved)“ (Drei, Geliebt) erstrecken sich die Songs über einen enormen musikalischen Bereich. So stellen sie sicher, dass die Zuhörer von Beginn an bis zur letzten Note des letzten Stückes gefesselt bleiben.
Harte Rhythmen treffen auf eine sanfte Stimme
Excentriks Beiträge zur Aufnahme können nicht ignoriert werden: Er war nicht nur der Produzent, der hinter einem Aufnahmegerät sitzt, sondern hat aktiv am Album mitgearbeitet. „Two (Rivers in the Desert)“, die erste Single des Albums, und der vorletzte Song „Eight (Arab-Amerikkki)“ (Acht, Arab-Amerikki) sind zwei der besten Beispiele für seinen Einfluss. Beim letztgenannten Stück ist dies offensichtlich, da er dort eine Vokalstimme und Hip-Hop-Beats beisteuert.
Als teils gesprochenes und teils gesungenes Stück handelt es von den Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, eine farbige Person, insbesondere arabischer Herkunft, zu sein – in einem Amerika, in dem die Gruppen, die die Überlegenheit der weißen Rasse vertreten, immer stärker werden. Es ist egal, ob man in den USA geboren wurde: Wenn man anders aussieht, wird man von diesen Gruppen als „fremd“ betrachtet. Der harte Stil von Excentriks Rap und Shalhoubs sanftere Stimme bieten nicht nur einen interessanten Kontrast, sondern zeigen auch verschiedene Bandbreiten von Verletzung und Schmerz durch Rassismus.
„Two (Rivers in the Desert)“ ist ein viel weniger expliziter Song. Sein arabischer Text stützt sich auf das Buch von Jesaja. Jesaja, der nicht nur von den Christen, sondern auch von den Juden und Muslimen als Prophet betrachtet wird, prophezeite das Erscheinen von sowohl Jesus als auch Mohammed. Man könnte die beiden Flüsse in der Wüste als das interpretieren, was aus den Lehren dieser beiden Männer fließt. Oder es könnte lediglich darum gehen, die Existenz von Flüssen in der Wüste als größtes Zeichen der Hoffnung zu sehen, das überhaupt möglich ist. Der Klang und das Gefühl dieses Stücks sind so wunderbar ätherisch, dass sie das Publikum in eine andere Zeit und an einen anderen Ort versetzen.
Dies mag zwar nicht die ideale Welt sein, aber sie gibt uns Hoffnung und die Möglichkeit neuen Wachstums. In mehrfacher Hinsicht spiegelt dieser Song die gesamte Aufnahme wider: mit seiner Mischung musikalischer Elemente und Kulturen und seiner hoffnungsvollen Vision einer besseren Zukunft – in einer wüstenhaften Umgebung, die aussieht, als könne dort nie wieder etwas wachsen.
Mit Siphr hat Naima Shalhoub ein Album geschaffen, das die harsche Wirklichkeit der Welt erkennt und gleichzeitig Hoffnung für eine bessere Zukunft spendet. Es ist ein wunderbares Album mit Musik und Texten, die bei uns allen Anklang finden – unabhängig davon, welche Sprache wir sprechen oder in welchem Land wir leben.
Richard Marcus
© Qantara.de 2020
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff