Sprachrohr der fragmentierten Minderheiten
In den Niederlanden zeichnete sich vor der Europawahl eine Entwicklung ab, die auch international für Aufmerksamkeit sorgte. Der rechtsnationale Nachwuchsstar Thierry Baudet erklärte, er werde aus der Europawahl mit seinem Forum für Demokratie als Sieger hervorgehen und für die Niederlande die Mehrheit der Sitze gewinnen.
Weniger im Blickpunkt stehen die Folgen der starken Polarisierung durch die rechtspopulistischen Strömungen für die einst ausgewogene politische Landschaft und die niederländische Gesellschaft insgesamt. Minderheiten, Migranten und deren Nachkommen haben in den Niederlanden mittlerweile ihre eigenen politischen Parteien gegründet und wehren sich gegen die zunehmende migrationskritische Stimmung, die heute den gesellschaftlichen Diskurs des Landes bestimmt.
Die stärkste Stimme der neuen Migrantenparteien ist "Denk", die mit ihren Kandidaten auch zur Europawahl antritt. Ihr erklärtes Ziel ist es, als erste Partei, die sich den Interessen der neuen Europäer widmet, einen Sitz im Europäischen Parlament zu erringen. Leicht wird es für "Denk" allerdings nicht. Doch das Fehlen einer Sperrklausel im niederländischen Verhältniswahlrecht und vielversprechende aktuelle Umfragen – die "Denk" zusammen mit der ebenfalls neuen Rentnerpartei "50+" in einem Kopf-an-Kopf-Rennen sehen – könnten dazu führen, dass die Partei ihr Ziel erreicht und mit der Forderung nach einer Einbindung von Minderheiten ins Europäische Parlament einzieht.
Gewachsene Polarisierung – ein Rückblick
Wie konnte es zu einer derartigen Polarisierung der niederländischen Politik kommen, dass sowohl das rechtsnationale migrationskritische "Forum für Demokratie" (FvD) als auch eine migrantenfreundliche Partei wie "Denk" im niederländischen Abgeordnetenhaus sitzen? Die Antwort auf diese Frage verweist auf ein Schlüsselereignis aus dem Jahr 2002: Die Ermordung des Rechtspopulisten Pim Fortuyn.
In einem Land, in dem 1 Million von insgesamt 18 Millionen Bürgern Muslime sind, beobachteten Migranten aus Nicht-EU-Staaten und deren Nachkommen den Stimmungswandel unter den linken Parteien mit wachsender Sorge. So wie der Mord an Pim Fortuyn 2002 und an dem Filmregisseur Theo van Gogh 2003 als Wendepunkte für eine wachsende Islamophobie gelten, markierte das Jahr 2014 einen weiteren Einschnitt. Am 13. November kam es zum formalen Bruch der multiethnischen Gesellschaft in den Niederlanden, als Tunahan Kuzu und Selçuk Öztürk – zwei türkischstämmige Abgeordnete der "Partei der Arbeit" (PvdA) – die Partei verließen.
Der Austritt war der Höhepunkt einer heftigen internen Debatte, die sich an einem Positionspapier entzündete, in dem es hieß, 90 Prozent der jungen Niederländer mit türkischen Wurzeln seien Unterstützer des "Islamischen Staates" (IS). Der Austritt (oder der Verstoß – weder die PvdA noch die "Denk"-Gründer können sich auf eine einheitliche Darstellung einigen) der beiden Abgeordneten war deshalb so folgenreich, weil hier die Identität als Minderheit im Vordergrund stand, nicht eine konkrete politische Meinungsverschiedenheit.
Fragwürdige Anschuldigungen
Die Befunde des Papiers erwiesen sich übrigens als überzogen; seine Glaubwürdigkeit wurde infrage gestellt. Doch der PvdA-Vorsitzende und damalige Minister für Soziales und Arbeit, Lodewijk Asscher, stand weiter hinter dem Bericht und sah darin einen Beleg für eine gescheiterte Integration. Viele setzten diese Einstellung mit der offiziellen Linie der Partei gleich, die doch einst als besonders "muslimfreundlich" galt.
Kuzu und Öztürk, beide in der Türkei geboren, waren sich des enormen Stimmenpotenzials der Migranten in dieser turbulenten Zeit bewusst: Der Rechtspopulist Geert Wilders machte massive Gewinne, Mark Ruttes liberale "Volkspartei für Freiheit und Demokratie" (VVD) verfolgte eine harte Linie beim Thema Immigration, während sich linke Parteien vom Internationalismus abwandten und stärker auf die niederländischen Mainstream-Wähler setzten.
Anstatt ihr Mandat in der niederländischen Zweiten Kammer (dem Gesetzgebungsorgan des Parlaments) zurückzugeben, gründeten die beiden Abgeordneten ihre eigene Partei und nannten sie "Denk". Das Wort bedeutet auf Niederländisch "denken" und auf Türkisch "gleich". Es verweist damit auf die Wurzeln der Partei. Sie ordnen ihre Bewegung als antirassistisch, multiethnisch und antikolonial ein und verfolgen ein ausgeprägt linkspolitisches Programm, das u.a. "weiße Privilegien" und institutionalisierten Rassismus in den Niederlanden strikt ablehnt.
Folge der Krise der etablierten Parteien
Viele Wissenschaftler, wie etwa Floris Vermeulen von der Universität Amsterdam, der sich intensiv mit dem Phänomen der "Migrantenparteien" beschäftigt hat, erachten "Denk" als direkte Folge der Krise der etablierten Parteien und des Aufstiegs populistischer Bewegungen, wie Wilders' "Partei für die Freiheit" und Thierry Baudets "Forum für Demokratie".
Bei den Wahlen im März 2017 war Denk die erste Migrantenpartei in Europa, deren Vertreter in ein nationales Parlament gewählt wurden. Kuzu und Öztürk kehrten gemeinsam mit dem in Marokko geborenen Farid Karzan als Abgeordnete ins Parlament zurück. Die drei Abgeordneten von "Denk" weckten seither landesweites, bisweilen sogar internationales Interesse. Die etablierte Politik und die nationale Presse reagierten im Allgemeinen kritisch.
Wilders warf der Partei vor, "Agenten" des türkischen Präsidenten Erdoğan zu sein, da die Partei Gerüchten zufolge von der Diyanet aktiv unterstützt werde, dem mächtigen Amt für Religiöse Angelegenheiten der Türkei. De Telegraaf, die auflagenstärkste niederländische Tageszeitung, bezeichnete "Denk" als "Produkt einer gescheiterten Integration".
Die sogenannte "türkische Partei" wendet sich nicht nur an "Nederturks" (kurdischstämmige Niederländer und Erdoğan-Gegner lehnen sie ab). Sie findet auch Unterstützung bei vielen Niederländern mit marokkanischen Wurzeln und gebürtigen Niederländern, die mit der etablierten Politik unzufrieden sind. Diese Entwicklung unterstreicht aber auch den radikalen Wandel, den ein Land erlebt hat, das einst als Muster für interkulturelle Vielfalt galt.
Vielfalt des migrantischen Parteienspektrums
Im fünften Jahr ihres Bestehens ist "Denk" das wohl erfolgreichste Beispiel für eine "Minderheitenpartei" mit einer stabilen landesweiten Organisation und gewählten Vertretern in mehreren Provinzen sowie in jeder Stadt mit einem nennenswerten Anteil von Minderheiten. Sie ist allerdings nicht die einzige Partei in den Niederlanden, die niederländische Bürger mit Migrationshintergrund umwirbt. In Großstädten wie Amsterdam, Rotterdam und Den Haag gibt es lokale Minderheitenparteien, die meist die fragmentierten und komplexen muslimischen Gemeinschaften vertreten.
In Rotterdam gründete Nourdin El Ouali, ein ehemaliger Stadtrat der Partei "GrünLinks", die Partei "Nida", was auf Arabisch "Stimme" und "Einheit" bedeutet. Die Partei – eine muslimisch inspirierte Bewegung mit einer progressiven Haltung zu sozialen Fragen und LGBTIQ-freundlichen Positionen – ist seit 2014 im Gemeinderat vertreten. Diese ungewöhnliche Kombination führte dazu, dass "Nida" bei jüngeren Menschen mit Migrationshintergrund viel Unterstützung findet; "Nida" stellt zudem einen Vertreter im Stadtrat von Den Haag.
In der "Stadt des Friedens und der Gerichtsbarkeit", wie sich die heimliche Hauptstadt der Niederlande wegen der dort ansässigen internationalen Einrichtungen bezeichnet, ist die politische Fragmentierung so groß, dass gleich drei Parteien die muslimische Wählerschaft umwerben: "Nida", die "Partei der Einheit" und die "Islamdemokraten". Alle drei haben jeweils einen Sitz im Rat und vertreten häufig die Interessen verschiedener Moscheegemeinden und islamischer Kulturzentren.
Identitätspolitik im Fokus
In Amsterdam, wo "Denk" praktisch alle muslimischen Stimmen auf sich vereint, tritt mit "BIJ1" eine weitere Migrantenpartei an, die sich als Vertretung schwarzer Zuwanderer versteht und ein explizit feministisches Programm verfolgt. "BIJ1" konnte bei den letzten Gemeindewahlen einen Sitz erringen. Die Partei wurde von Sylvana Simons gegründet, einer niederländisch-surinamischen Fernsehschauspielerin. Ihr Programm konzentriert sich auf die Dekolonisierung und die Rechte der schwarzen Gemeinschaft, insbesondere der Frauen.
Für viele ist der Erfolg der Migrantenparteien ein beunruhigendes Signal: Da in den Niederlanden die nicht-westlichen Minderheiten 13 Prozent der Bevölkerung ausmachen, besteht die Gefahr, dass ein maßgeblicher Teil des Landes von der Mainstream-Gesellschaft marginalisiert wird.
Zwar betreiben die Migrantenparteien vor allem Identitätspolitik und machen auch durch Aktivismus auf sich aufmerksam, doch immerhin haben sie es geschafft, Menschen zu mobilisieren, die bislang politisch nie engagiert waren. Sie stellen den Begriff der "Integration" massiv infrage, indem sie ihn als "neokoloniales Werkzeug der Einheimischen zur erzwungenen Assimilation" darstellen, und setzen diesem Begriff die Idee der "Akzeptanz" entgegen.
"Denk" nimmt hierbei mit Sicherheit eine Vorreiterrolle ein. Laut jüngsten Umfragen hat die Partei gute Chancen, als erste Migrantenpartei überhaupt einen Sitz im Europäischen Parlament zu gewinnen.
Massimiliano Sfregola
Aus dem Englischen von Peter Lammers