Überleben in der Todeszone
Wenn der Erzähler vor sein Haus tritt, muss er jedes Mal fürchten, dass ihn eine verirrte Kugel aus dem Magazin eines nahe gelegenen Checkpoints trifft. Egal um welche Tages- oder Nachtzeit, sein Augenmerk ist immer darauf gerichtet den omnipräsenten Soldaten und vermummten Milizen sein Kommen zu signalisieren, um sie nicht in Alarmbereitschaft zu versetzen.
Viele seiner Freunde sind durch Querschläger getötet worden, andere starben im Kugel- oder Bombenhagel eines unerwarteten Angriffs, selbst zu Hause gibt es keine Sicherheit, jederzeit kann sich eine Detonation in der Nähe ereignen und herumfliegende Glassplitter zu tödlichen Geschossen werden.
Wo selbst die Toten keine Ruhe finden
Die Gedanken, Träume und Erlebnisse des Erzählers kreisen permanent um den Tod, der wie eine real-metaphorische Übermacht über dem Land steht. Nicht allein, dass das Leben permanent ins Sterben überzugehen droht, die Toten selbst finden keine Ruhe, in nicht wenigen Texten kehren sie zurück und irren angsterfüllt durch die Straßen. Sie verlassen ihr Grab oder – wie jener junge Mann im Juli – das Kühlhaus, weil er es "im Kühlschrank des Krankenhauses" vor Kälte nicht mehr aushält.
Aus diesem Horrorkabinett unternimmt der Erzähler jedoch immer wieder kleine Fluchten, wenn er sich auf die Schätze seiner Bibliothek besinnt, sich mit Thomas Mann, Hermann Hesse und José Saramago unterhält oder in seiner Phantasie als Don Quijote auf sein Pferd steigt und die Soldaten am Checkpoint mit dem Schwert so mutig wie der Ritter von der traurigen Gestalt zu Hunderten niederschlägt.
Dabei weiß der Erzähler natürlich, dass er keine Chance hat an den Verhältnissen etwas zu ändern, er fühlt sich mitunter als "Null" im Krieg, weil er ebenso hilflos ist wie die anderen Bewohner, deren verhärmte Gesichter auf der Straße "Geistesabwesenheit und Panik" ausdrücken.
Drang nach Leben
Doch da er, wie er in der einleitenden Miniatur erklärt, nicht bereit ist, Aleppo und Syrien zu verlassen, weil dies für ihn bedeuten würde seine "Seele" zu verlieren, lernt er seine permanente Angst vor Verletzung und Tod zu überwinden und auf gefahrvollen Spaziergängen durch die Stadt zu streifen, bei denen ihn ein unbändiges, elementares Freiheitsbedürfnis und ein Drang nach Leben erfüllen.
Malek, der zahlreiche, viel beachtete Romane und Erzählbände veröffentlicht hat, lässt seinen Spaziergänger durch eine kriegstraumatisierte Stadt wandeln, um darin nach Spuren eines vergangenen Lebens zu suchen, das für immer unter den Trümmern und Ruinen verschüttet scheint. Oft genug bringt den Flaneur der Anblick der verwüsteten Straßen, Märkte und Geschäfte zur Verzweiflung, so dass er "geschlossenen Auges" weitergehen muss.
Dieser "sinnlose lange Krieg", den Malek selbst im Nachwort als "Dritten Weltkrieg" bezeichnet und dessen Ende nicht in Sicht scheint, bringt so viel Leid über die Bevölkerung, dass selbst Kinder aufhören, Blumen und Bäume zu malen und stattdessen "zerstörte Häuser, verkohlte Bäume, auf dem Boden verstreute Leichen" aufs Papier bringen.
Obwohl dem Erzähler kein Detail aus dieser Hölle entgeht und er manchmal glaubt, Zeuge seiner eigenen Beerdigung zu sein und an den Anschlagswänden des Friedhofs seinen Namen in Todesanzeigen zu lesen, kennt er immer noch eine Welt, die vor Schönheit geradezu glüht. Er beschreibt nächtliche Zypressen, die wie in den Bildern Van Goghs den Sternenhimmel berühren, er betritt wunderschöne Gärten, die das Paradies zu verheißen scheinen.
"Ich gehe über einen Boden aus Traum"
Er nennt dies seine "imaginären Tage", die er in scharfem Kontrast abgrenzt von den "realen Tagen", in denen er nichts als Schikanen erlebt, die das Kriegsgeschehen diktieren: Taschenkontrollen an den Checkpoints, Häme und Verachtung der Soldaten gegenüber der Bevölkerung, Straßensperren und plötzlich aufflammende Gefechte, die ihn um sein nacktes Überleben fürchten lassen. Doch immer wieder findet er daneben Gelegenheit, sich von all dem abzuwenden, er glaubt Beethovens "Mondscheinsonate" erklingen zu hören, und dann "herrscht Ruhe, und ich gehe über einen Boden aus Traum".
So lassen sich diese Miniaturen, die meistens nicht länger als ein, zwei Seiten Text enthalten, auch lesen – als Zeugnisse eines trotzigen Widerstands gegen die drohende Auslöschung, als entschlossene Kampfansage gegen den Zynismus barbarischer Kriegsmächte. "Wütend" weigert sich der Erzähler in der Geschichte "Chagall", sich den Einschüchterungen durch die Checkpoints zu fügen und nach Hause zu gehen.
Entschlossen nimmt er seinen Freund an der Hand, um mit ihm auf jede Gefahr hin einen Weg durch die geschundene Heimatstadt zu finden, ohne auf eine der verhassten Straßensperren zu treffen. Und tatsächlich gelingt es ihm nach vielen vergeblichen Versuchen, endlich die Parkmauer zu erklimmen: "Und bei drei rief ich: 'Los, spring mit mir in den Himmel!' Und wir schwebten hoch oben, so frei und ungebunden wie die Figuren Chagalls in seinen blauen Himmeln".
In diesen von Larissa Bender einfühlsam übersetzten 'Überlebenstexten' eines in der "Welt des Todes" ausharrenden Poeten liegen Schönheit und Gräuel dicht beieinander, eine irritierende Lektüre, die noch lange nachklingt und den Leser nicht ohne Hoffnung zurücklässt.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2017
Niroz Malek: "Der Spaziergänger von Aleppo", Aus dem Arabischen von Larissa Bender, Weidle-Verlag 2017, 144 Seiten, ISBN: 978-3-938803-83-7144