Gerechtigkeit für die Ermordung des Vaters
In der Nacht vor dem NSU-Prozess kann sie nicht schlafen, das kennt Gamze Kubasik schon von den bisherigen Reisen zum Oberlandesgericht nach München. Diesmal war die Anspannung noch größer. Die junge Frau aus Dortmund, die den Prozess als Nebenklägerin verfolgt, sagte am Dienstag (05.11.2013) im Sitzungssaal A 101 als Zeugin zum Mord an ihrem Vater Mehmet Kubasik aus.
Hier schilderte sie, wie sie unweit des Tatorts zwei Männer beobachtet hat: "Einer fuhr
auf dem Fahrrad, einer ging daneben." Etwa 100 Meter sei sie vom Kiosk ihres Vaters entfernt gewesen, als sie den dunkelblonden Männern begegnete.
Kubasik sprach in München vor der Hauptangeklagten Beate Zschäpe und den vier Männern, die als Unterstützer des rechtsextremistischen Terrors angeklagt sind, zu dem sich der "Nationalsozialistische Untergrund" in einem Video bekannt hat: Morde und Sprengstoffanschläge.
Entsetzt über Zschäpe-Auftritt ohne Zeichen von Reue
Gamze Kubasik nennt Beate Zschäpe nur "die Frau" oder "diese Person". Als die am ersten Verhandlungstag im Mai den Gerichtssaal betrat, so erinnert sich die Nebenklägerin, "hat sich genau bestätigt, was ich immer gedacht habe: Das ist kein Mensch. Es gab überhaupt keine Reue in ihrem Gesicht." Sie habe den Eindruck, sagt Gamze Kubasik, dass das stolze Auftreten vor den Kameras mit lächelnden Anwälten und der flirtenden Angeklagten nur gespielt sei und als Provokation gedacht.
Für sie selbst aber sei das "unerträglich" gewesen. Trotzdem will sie mit Ruhe und Stärke reagieren. Die Hauptangeklagte schweigt im Gerichtssaal. Umso wichtiger ist es Gamze Kubasik, dass sie und ihre Mutter aussagen, "dass wir einmal unsere Stimme dort erheben können, ich als Tochter und meine Mutter als Ehefrau".
Ermittlungen gegen das Opfer
Sie will, dass alle hören, wie das Leben der Familie aus den Fugen geriet, als ihr Vater Mehmet Kubasik am 4. April 2006 mitten am Tag in seinem Kiosk in der Dortmunder Nordstadt brutal mit Kopfschüssen ermordet wurde. Dann wurde ihrem Vater "die Menschlichkeit genommen", sagt die Tochter. Denn die Polizei ermittelte gegen das Opfer, fragte überall bei Nachbarn und Bekannten nach Drogengeschäften, Geldwäsche und Mafia-Kontakten, sie recherchierte bis in die Türkei, aus der ihre Eltern einst nach Deutschland gekommen waren.
Bald wurde getuschelt und gelästert über den dreifachen Vater, der sich nie etwas hatte zuschulden kommen lassen: "Ein Drogenhändler, Gott sei Dank hat der meine Kinder nicht damit erwischt." Wie schwer es für die Familie war, dass ihnen fast niemand glaubte, das will Gamze Kubasik dem Richter erzählen und auch, wie sehr der Vater als Alleinverdiener fehlte, "dass meine Mutter und ich am Monatsende nichts gegessen haben, damit meine Geschwister das nicht mitbekommen".
Dem Verdacht auf rechtsextreme Täter gingen die Dortmunder Ermittler damals nicht nach. Auch sie sind in München als Zeugen geladen, doch Gamze Kubasik will es ihrem Rechtsanwalt Sebastian Scharmer überlassen, ihnen Fragen zu stellen. Nach dem Mord an ihrem Vater hatten sie und auch ihre Mutter immer wieder nachgefragt, ob nicht auch rechte Täter in Frage kämen: "Ich habe es tausendmal gemacht und es hat nichts gebracht". Die Ermittler hatten rechtsextreme Täter stets ausgeschlossen.
In Dortmund ermittelten die Behörden ebenso in die falsche Richtung wie an den Orten der sieben vorangegangenen und der zwei folgenden Morde, die man dem NSU zurechnet. "Die Behörden haben versagt, man hätte Morde verhindern können", das habe der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags festgestellt, sagt Gamze Kubasik. Den Abschlussbericht hat sie zuhause. Nach der Aussage in München will sie ihn von Anfang bis Ende lesen. Als im Bundestag in Berlin über den Bericht debattiert wurde, war sie dort. Neben ihr saß Bundespräsident Joachim Gauck, dem es ein Anliegen war, die Familien der Opfer an diesem Tag zu begleiten.
Gamze Kubasik weiß das zu schätzen, ebenso wie das Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und auch die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses, "aber es passiert trotzdem nichts", sagt sie, es blieben zu viele Fragen offen. Ihr lässt es keine Ruhe, dass Akten verschwunden sind, sie hat das Gefühl, dass man nicht alles aufdecke und dass mit den fünf Angeklagten in München wohl nicht alle Unterstützer zur Verantwortung gezogen werden.
Koffer packen und verschwinden?
"Mir reicht es nicht aus, wenn jemand zu mir sagt, es ist zu einem Versagen gekommen und dafür entschuldige ich mich. Ist man sich klar, dass ich meinen Vater verloren habe?" Es sei für sie bis heute eine Qual, "wenn ich immer darüber nachdenken muss, dass mein Vater leben könnte", sagt Gamze Kubasik. Wenn die Trauer sie übermannt, dann kämen manchmal die Momente, "wo ich sage, ich packe meinen Koffer und ich möchte dieses Land nie wieder sehen".
Doch die 28-Jährige arbeitet sich immer wieder heraus aus den dunklen Stunden, versucht sich vor ihrer Mutter und den jüngeren Brüdern nichts anmerken zu lassen. Ihre Mutter Elif Kubasik leide bis heute unter Angstzuständen. Wenn sie glaube, sie habe einen Nazi gesehen, dann bekomme sie am nächsten Tag rote Flecken und Schwellungen vor lauter Angst. Auch ihre Brüder möchte Gamze schonen. Der Jüngste ist 13 Jahre alt, "er ist noch ein Kind", sagt die große Schwester.
Die Sicherheit, dass es niemals vergessen wird
In ihrer Heimatstadt fühlt sich die Dortmunderin heute gut aufgehoben. Das liege zum einen am heutigen Polizeichef, der sich sehr gegen rechte Aktivitäten in der Stadt engagiere. Außerdem ist Gamze Kubasik froh über den, wie sie sagt, menschlichen und sensiblen Einsatz von Oberbürgermeister Ullrich Sierau. Außer dem Gedenkstein vor dem ehemaligen Kiosk ihres Vaters hat die Stadt nun einen Platz in Bahnhofsnähe als Mahnmal für alle zehn NSU-Mordopfer gestaltet: mit zwei großen Steinplatten, zusätzlichen Gedenktafeln auf Türkisch und Griechisch, mit Rasenfläche und Sitzbänken.
Gamze Kubasik geht oft mit ihrem Mann dorthin. Es war für sie sehr wichtig, dass in deutschen Städten solche Mahnmale entstehen, "das gibt die Sicherheit, dass sowas niemals vergessen wird". Sie ist erleichtert bei dem Gedanken, später vielleicht einmal mit eigenen Kindern dorthin gehen zu können, die dann wüssten, "das war mein Opa", dann könne sie ihnen besser erklären, was passiert sei.
Die Aufgabe als Tochter von Mehmet Kubasik
"Nie wieder" steht auf dem Gedenkstein, dafür setzt sich Gamze Kubasik auch persönlich ein, sie spricht bei Veranstaltungen gegen rechte Gewalt. "Es ist meine Aufgabe als Tochter von Mehmet Kubasik", davon ist sie überzeugt, denn durch ihre Geschichte könne sie andere berühren und dazu motivieren, sich gemeinsam gegen Rechtsextremismus einzusetzen. "Deutschland ist meine Heimat", sagt Gamze Kubasik, sie kann sich nicht wirklich vorstellen, in einem anderen Land zu leben.
Auch in München sprach sie als Tochter von Mehmet Kubasik. Sie hofft auf eine "hundertprozentige Aufklärung", sagt sie, setzt aber gleich hinzu, "ich weiß nicht, ob wir dazu kommen werden". Gamze Kubasik wünscht sich "Gerechtigkeit - dass die Leute, die dafür verantwortlich sind, verurteilt werden, dafür dass sie gemordet haben beziehungsweise dabei geholfen haben." Wenn all das abgeschlossen ist, so hofft sie, kann sie irgendwann ihren inneren Frieden finden und ein ganz normales Leben führen, "das ist ein sehnlicher Wunsch von mir".
Andrea Grunau
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