Plädoyer für den mündigen Muslim

Mit seiner Essay-Sammlung gibt Omar Saif Ghobash jungen Muslimen eine Orientierungshilfe in unserem komplexen 21. Jahrhundert. Das Buch richtet sich zwar in Briefform an seinen 15 Jahre alten Sohn Saif, aber die darin formulierten Gedanken sind für Muslime jeden Alters lesenswert. Von Sultan Sooud Al Qassemi

Von Sultan Sooud Al Qassemi

Von Beginn an plädiert Omar Saif Ghobash leidenschaftlich für Individualität im Islam und widmet diesem Plädoyer einen besonders eindringlichen Brief seines Buchs "Es gibt keinen Grund zu hassen. Ein liberaler Islam ist möglich" (engl. Original: "Letters to a young Muslim"/Anm. der Red.). So fragt er seinen Sohn: "Wann hast du je vom muslimischen Individualismus oder vom mündigen Muslim gehört? Du hörst von der arabischen Nation, der islamischen Umma, den Rechtgeleiteten und der arabischen Welt. Doch hörst du jemals vom muslimischen Individuum als mündiges Wesen, als Mensch mit Charakter und Persönlichkeit; sprich einem Menschen, der anders sein darf als seine Mitmenschen?"

Als Reaktion auf die aktuelle Autoritätskrise schreibt Ghobash über die Schaffung eines neuen Raums, der allen Muslimen offensteht – auch den religiösen Laien. Ein Raum, in dem sie am Diskurs über den Islam mitwirken können: "Die Generation meines Sohnes soll erkennen, dass sie als Muslime das Recht haben, selbst zu entscheiden, was richtig und was falsch ist, was das Wesen des Islam ist und was eher nebensächlich ist."  Junge Muslime sollten über Literatur, Film und bildende Kunst miteinander als Individuen ins Gespräch kommen und unsere Phantasie beflügeln.

Am Anfang seines Buchs wirbt Ghobash um das Vertrauen des Lesers, indem er Einblicke in sehr persönliche Momente seines Lebens gewährt. So nutzt er seine eigene Geschichte als Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Ideen und Appelle. Zu den eindrucksvollsten Seiten des Buchs zählen die Momente, in denen Ghobash über die Ermordung seines Vaters und über den Durchhaltewillen seiner Familie schreibt.

Gedanken über persönliche Verluste

Omars Vater Saif, ein polyglotter Mensch und Intellektueller, war Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate. Saif Ghobash fiel 1977 einem Attentat zum Opfer, als ihn eine Kugel traf, die einem anderen galt. Sein Sohn Omar war gerade einmal sechs Jahre alt. Die damalige Zeit war politisch aufgeladen, ähnlich wie heute.

Buchcover Omar Saif Ghobash: ″Es gibt keinen Grund zu hassen. Ein liberaler Islam ist möglich" im Rohwolt-Verlag.
In Briefen an seine Söhne geht Omar Saif Ghobash der Frage nach, was es bedeutet, heute Muslim zu sein. Gerade jetzt, wo das Wort "Islam" oft in einem Atemzug mit "Extremismus" genannt wird. Wer hat das Recht, für den Islam zu sprechen? Gibt es Grenzen des Glaubens? In welchem Verhältnis stehen Glaube und Politik? Warum ist Extremismus der falsche Weg?

Omar Ghobash erinnert sich an die Freude, vorzeitig von der Schule abgeholt worden zu sein. Die Freude fand jedoch ein jähes Ende, als er zu Hause vor einem Sarg stand, der in die Flagge der Vereinigten Arabischen Emirate eingehüllt war. Später, im Alter von zwölf Jahren, begann er, intensiver nachzuforschen, was genau an diesem Tag geschah und warum. Das Buch gewährt uns Einblicke in Empfindungen und Gedanken, die die meisten von uns wohl kaum mit anderen zu teilen wagten.

Der Originaltitel des Buchs lautet "Letters to a Young Muslim". Doch es liest sich in Teilen wie eine persönliche Reflexion. Und tatsächlich räumt der Autor ein: "Ich weiß wohl, dass ich diese Briefe auch für mich schreibe."

Omar Ghobash erinnert sich an die Diskriminierung, die er und seine Familie aufgrund der russischen Herkunft seiner Mutter erfuhr. Er plädiert für Multikulturalität im Islam und versichert, "es gibt nicht die eine wahre Version des Islam, nach der sich alle Muslime richten müssen."

Hierbei verweist er auf Zentral- und Südasien, wo sich lokale Bräuche mit dem Islam vermischen. Ebenso wie in den großen Städten der USA oder auf dem Campus von Universitäten, wo der Islam ganz unterschiedlich gelebt wird.

Veraltete Rollenmodelle

Omar Ghobash geht in seinem Buch einem bemerkenswerten Gedanken nach: Die Rolle des Kriegers wurde in der islamischen Geschichte überhöht und wird muslimischen Schülern heute noch als Rollenmodell vermittelt. Das, so meint Ghobash, könne nicht ohne Auswirkungen auf unsere Jugend bleiben.

Da ich als Rezensent der gleichen Generation wie der Autor angehöre, habe auch ich weitgehend die gleichen Schulbücher studiert. Diese Schulbücher wurden in jüngster Zeit glücklicherweise einer gründlichen Überarbeitung unterzogen.

Unsere Schulbücher und unsere Lehrer vermitteln uns aber tatsächlich immer wieder die Geschichten muslimischer Helden, die ihre Feinde in die Knie zwangen. Dabei kennt die islamische Geschichte viele kluge Köpfe, die auf anderen Gebieten Furore machten und machen – von der Wissenschaft bis zur Literatur.

Leider werden diese herausragenden Persönlichkeiten immer noch auf Nebenrollen verwiesen. "Wenn wir uns fragen, warum wir weiter am Ideal des Kriegers festhalten, finden wir möglicherweise die Erklärung dafür, warum wir hinter den Rest der Welt zurückgefallen sind", schlussfolgert Ghobash.

Junge Muslime sind es gewöhnt, von Erwachsenen belehrt zu werden, was sie tun und lassen sollten. Es ist, als lebten wir in einer Welt aus unerreichbaren und erhabenen Idealen. Ghobash warnt seinen Sohn davor, als junger Muslim verleitet zu werden, über andere zu urteilen, "wenn du meinst, selbst nach derart hohen und anspruchsvollen Normen zu leben, dass alles um dich herum moralisch und rituell falsch erscheinen muss."

"Menschen", so schreibt Ghobash, "sprechen oft in einer Weise über den Islam, der einen glauben lässt, den Islam gäbe es irgendwo in perfekter Gestalt." Doch ohne die Menschen, die ihn praktizieren, meint Ghobash, könnte der Islam nicht existieren oder irgendeine Bedeutung haben. So mahnt er seinen Sohn Saif, die Verurteilung anderer könne uns selbst feindselig machen. "Wenn dir jemand sagt, du sollst andere hassen, entmündigst du dich."

Handeln hilft

Wie sollten sich junge Muslime stattdessen verhalten? "Ich will, dass Ihr einen Teil Eurer Zeit denen widmet, die sich am Rande der Gesellschaft befinden", schreibt der Autor. Dies zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch: Ghobash fordert Muslime auf, für ihre Religion und für ihr Leben Verantwortung zu übernehmen. Er appelliert an alle jungen Muslime: "Besteigt einen Berg. Helft freiwillig Kindern aus ärmlichen Verhältnissen. Helft einem Freund aus seinen Schwierigkeiten. Stellt Euch vor jemanden, der weniger privilegiert ist als Ihr. Lehrt jemanden lesen und schreiben."

Und er rät jungen Muslimen, praktische Schritte zu unternehmen und betont dabei wieder die Rolle des Individuums im Islam. "Schaut Euch um. Wer in Eurer Nähe erscheint Euch hungrig, schwach oder vom Leben gezeichnet? Überlegt, wie Ihr helfen könnt." Die Botschaft ist, Verantwortung für die Herausforderungen zu übernehmen, vor der die muslimischen Gesellschaften stehen.

Ghobash tut dann etwas, das so einfach und doch so selten ist: Er stellt Fragen, die in vielen Teilen der muslimischen Welt weiterhin tabu sind. Könnte die Geschlechtertrennung unsere geistig-seelische Entwicklung beeinträchtigen? Was wäre, wenn Homosexualität nicht freiwillig, sondern genetisch vorbestimmt ist? Und wie sollten wir uns verhalten, wenn vermeintlich islamische Vorstellungen eindeutig Unsinn sind?

Ghobash sagt seinem Sohn: "Dies sind die Fragen Eurer Generation. Lasst Euch nicht weismachen, dass eine verdrängte Frage eine beantwortete Frage ist." Er erinnert an die Muʿtazila, eine von der griechischen Philosophie beeinflusste theologische Strömung des Islam, die ihre Blütezeit im 10. Jahrhundert hatte. Die vornehmlich in Basra und Bagdad vertretenen Denker bemühten in religiösen Streitgesprächen Verstand und Logik.

Diese Ideen wurden von denjenigen unterdrückt, die eine puritanische Sicht auf den Islam vertraten und ausschließlich die Offenbarung gegenüber dem Propheten Muhammed gelten ließen. Der Autor hat die Hoffnung, dass sich im 21. Jahrhundert künftige Generationen der Ulema, also der islamischen Religionsgelehrten, auf Logik und Verstand berufen, um offene Fragen der Theologie zu beantworten.

Vorsicht vor den Profiteuren

Ghobash spricht sich auch für eine konstante Erneuerung oder moralische Weiterentwicklung des Islam aus: "Im Lichte neuer Informationen oder Erkenntnisse müssen wir unsere bisherigen Vorstellungen überprüfen und gegebenenfalls revidieren." Seiner Meinung nach erkennen viele Muslime in der arabischen Welt immer noch nicht die Bedeutung und Dynamik der Beziehung zum Westen und dass aufgrund dieser Beziehung unser Leben "nicht nur zunehmend lebenswert, sondern auch angenehm ist."

Ein Beispiel für diese Dichotomie sieht er in den islamischen Extremisten, die die westliche Kultur verachten, aber dennoch von deren Technologien und Innovationen profitieren und ihre Geschäfte in Dollar abrechnen. Diese Extremisten bedienen sich einer Gewalt, die er als "Werkzeug der Einfalt" bezeichnet.

Mit trockenem britischen Humor verweist Ghobash darauf, dass "Gewalt ein besonders einfältiges und phantasieloses Mittel zur Lösung von Problemen" ist. "Gewalt", so Ghobash, "ist der kürzeste Weg zur sofortigen Bemächtigung und Befriedigung". Eine Vorstellung, die auch andere Gelehrte vertreten und die darauf verweist, dass sich junge Muslime von ihrem Staat und ihrer Gesellschaft marginalisiert fühlen.

Abschließend greift Ghobash einen eingangs erwähnten Aspekt auf und unterstreicht seine These: "...die Idee des muslimischen Individuums (ist) das einfachste und wirkungsvollste Mittel zur Erneuerung der muslimischen Welt.“ An seinen Sohn Saif gerichtet sagt er: "Wenn Du erst einmal die individuelle Vielfalt Deiner muslimischen Mitmenschen akzeptierst, wird Du das wohl auch gegenüber Menschen anderen Glaubens können."

Omar Saif Ghobash, dem mit nur sechs Jahren durch die Ermordung seines Vaters ein leuchtendes intellektuelles Vorbild geraubt wurde, ist selbst zu einem geworden.

Sultan Sooud Al Qassemi

© Qantara.de 2017

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers

Omar Saif Ghobashs Buch ″Es gibt keinen Grund zu hassen. Ein liberaler Islam ist möglich" erscheint 22. April 2017 in deutscher Fassung im Rohwolt-Verlag.