Film als politisches Kunstwerk
Zwei Regisseure, der Palästinenser Michel Khleifi und der Israeli Eyal Sivan, reisen im Sommer 2002 entlang der Grenze der UN-Resolution 181 von 1947, nach der Palästina in zwei Staaten geteilt werden sollte. Daraus entstand ein gemeinsamer Film, der nun in Berlin vorgestellt wurde. Über "Route 181" sprach Youssef Hijazi mit Michel Khleifi.
Herr Khleifi, mit 20 Jahren verließen Sie ihre Geburtstadt Nazareth, was war der Anlass?
Michel Khleifi: Ich emigrierte aus unterschiedlichen Gründen, aus politischen, menschlichen, emotionalen sowie existenziellen. Ich wünschte mir ein anderes Leben, da meine weitere Entwicklung in Nazareth blockiert war. Als Palästinenser hatte ich keine Chance auf einen Studienplatz in Israel. So ging ich nach Brüssel, um dort Theater zu studieren, denn ich war und bin der Überzeugung, dass Kultur das wichtigste Gut für mich und jeden Araber ist. Ich glaube, dass Bildung ein wesentliches Element im Kampf und die bedeutsamste Grundlage für Veränderung ist.
Das palästinensische Kino wurde innerhalb der PLO entwickelt. Die politische Seite überwog. Der Regisseur Michel Khleifi bot von Beginn an ein anderes unabhängiges Kino an. Woher stammt Ihre Auffassung, das Kino nicht als Politikum, sondern als kulturelle Produktion zu sehen?
Khleifi: Ich bin der Überzeugung, dass man nur über Bildung und Wissen einen Zugang zur Welt erlangt. Eine nationale Veränderung ist nur möglich, indem wir die palästinensische mit der weltweiten menschlichen Erfahrung verknüpfen. So sehe ich die Dinge und in dieser Richtung arbeite ich.
Im Hinblick auf meine filmische Arbeit habe ich von Beginn an einen unabhängigen Weg beschritten. Das ist der Kampf, für den ich meine ganze Kraft einsetze. Ich hoffe auf die Freiheit des Einzelnen, der fähig ist, sich zu äußern und Verantwortung für seine Fehler übernimmt. Der Mensch macht Fehler, aber der Ideologe gibt seine Fehler nicht zu, auch wenn er das Volk an einen Abgrund führt. Warum ist unsere Realität so wie sie ist?
Mittlerweile sind es fünf Generationen, die gelitten haben und immer noch leiden. Die Frage, die sich stellt, ist, wie machen wir aus dieser Herausforderung eine zivilisatorische? Mit Bildung, Wissen, Kreativität und Produktivität. Nur so können wir die Dinge verändern.
Ist das Kino für Sie die Grundlagen der Befreiung?
Khleifi: Lassen Sie mich mathematisch rechnen – wie viel Geld haben wir bisher für Waffen ausgegeben? Milliarden. Was wäre, wenn diese Gelder für die Modernisierung der arabischen Welt sowie der palästinensischen Gesellschaft und für eine moderne Bildung ausgegeben worden wären? Das ist die wahre Herausforderung. Wir brauchen ein anderes Verständnis, eines, das den Palästinensern Selbstbewusstsein ermöglicht.
Mit diesen Gedanken verließ ich mein Land, und mit der Zeit kristallisierte sich in mir die Idee heraus, dass es keine Bedeutung hat, mittels des Kinos Parolen zu propagieren. Nicht der gemeinsame Aufschrei ist das Schöne, sondern die menschliche Erfahrung, die in einem Gefühl mündet und dann zur Parole wird. Mich interessiert in erster Linie die Menschlichkeit an der palästinensischen und arabischen Erfahrung. In sie bin ich wahrhaft verliebt. Nach 34 Jahren Exil spreche ich, wie Sie hören, nach wie vor ein gutes Arabisch. Das ist meine Sprache und meine Identität ohne Chauvinismus. Meine Identität baut sich nicht auf der Negierung, sondern im Gegenteil auf der Integration des Gegenübers auf.
Ist das der Grund für die Zusammenarbeit mit dem israelischen Regisseur Eyal Sivan?
Khleifi: Es ist unsere erste Zusammenarbeit, und ich betrachte den Film als ein politisches Kunstwerk. Wir wollten zeigen, dass nicht alle Juden und Israelis schlecht sind – genauso wenig wie alle Araber, Muslime oder Christen. Im Gegenteil, es gibt gemeinsame Projekte, die wir zusammen verwirklichen können, auf der Grundlage von gegenseitigem Respekt und gleichen Rechten. Und dies, um die Hoffnung auf eine bessere Zukunft wiederzugewinnen.
Welche Bedeutung hat die Szene, in der sich ein israelischer Soldat und eine Soldatin an einem Militärcheckpoint in der Westbank vor der Kamera ihre Verliebtheit gestehen? Demgegenüber zeigen Sie einen jungen Palästinenser mit Tränen in den Augen, als ihn seine Mutter nach einem misslungenen Selbstmordattentat im Gefängnis besucht. Wollen Sie den Palästinenser und den Israeli als gleichberechtigt darstellen?
Khleifi: Tatsächlich findet hier eine Gleichsetzung der Menschlichkeit beider statt. Der Soldat ist etwa 18 Jahre alt, genauso alt wie der Junge, der ein Selbstmordattentat begehen wollte. Zunächst haben wir beide auf eine menschliche Ebene zurückgeholt. Doch gleichzeitig offenbart das Bild, dass der eine bewaffnet am Checkpoint steht, wobei er über Macht verfügt, während sich der Palästinenser im Gefängnis befindet. Es ist ein Film, und der Zuschauer soll die Bilder lesen, und nicht nur die Worte vernehmen. Mein Ziel ist, dass der Araber seine Menschlichkeit nicht ablegt. Die Kraft unserer Zivilisation liegt in ihrer Humanität begründet. Wenn Humanität die Basis ist, dann können wir unser Gegenüber ohne weiteres integrieren.
Die Presse ist unterschiedlich mit dem Film umgegangen. Die einen kritisieren, dass der Film die Debatte um den arabisch-israelischen Konflikt vergiftet, die anderen betrachten den Film als ein Pionierwerk, das das Zusammenleben zwischen den verfeindeten Parteien thematisiert. Wie deuten Sie die Kritik?
Khleifi: Die Okkupation wird in dem Film als eindeutige Tatsache dargestellt. Wir kehren mit dem Bild zu den Anfängen zurück, in das Jahr 1947. Aus diesem Grund wird der Film angegriffen.
Auf der anderen Seite haben wir bisher keinen Film gesehen, der uns Palästina so zeigte. Wir sehen Palästina an jedem Ort von Beginn der „Route 181“ bis zum Ende. Es ist mir klar, dass den Zionisten dieser humane Zug in dem Film nicht passt. Daher mobilisieren sie dagegen.
Der Film hat nicht nur eine humane Seit. Drehen Sie politisch gesehen den Spieß nicht um?
Khleifi: Wir haben Erinnerungen an die Oberfläche geholt, aber natürlich können wir die existierende Realität nicht einfach wegwischen. Wir müssen ehrlich sein mit den Dingen, um die Widersprüche herauszuarbeiten. Zunächst zeigen wir im Film, dass es im Süden keine Palästinenser mehr gibt. Warum nicht? In der ersten Szene erzählen zwei Jungen aus Ailaboun von dem Massaker in ihrem Dorf 1948. Auch der Friseur von Lod berichtet über ein Massaker, das bisher nirgendwo Erwähnung gefunden hat. Die Tatsachen beginnen, an die Oberfläche zu dringen und widerlegen am Ende die zionistische Lüge, die besagt, dass wir die Juden ins Meer werfen wollten.
Zum ersten Mal seit 1948 sehen und hören wir israelische Menschen, die an der ethnischen Säuberung von Palästinensern beteiligt waren und dies vor der Kamera aussprechen. Tatsachen, die in dieser Form noch nie gezeigt wurden. Ich sage es ganz offen, ich verspüre keinen Hass. Mein Kampf ist politisch, und wir haben viele Widersprüche in der arabischen Welt. Im Grunde ist diese Idee, den anderen zu negieren, eine zionistische Idee und stammt nicht aus der arabischen Welt. Wir dürfen ihr keinen Raum in uns geben, sonst folgen wir der Spiegelung, indem wir uns nicht mehr selbst ähneln, sondern zu Spiegelbildern unserer Feinde werden. Das wäre die wirkliche Tragödie. Mit dem Film versuchen wir, diese Gefahr zu bannen.
Ein Teil der Realität in Israel, die Sie zeigen, war der Dienst einiger Palästinenser in der israelischen Armee. Wie reagierten die Zuschauer in den arabischen Ländern darauf?
Khleifi: Der Film wurde dort noch nicht gezeigt, aber diese Tatsache ist ohnehin bekannt. Arbeiten nicht einige arabische Firmen, Geheimdienste und Länder mit Israel zusammen?
Kehren wir zurück zur Struktur der historischen Konflikte - die Dinge vermischen sich. Wenn wir an das Mittelalter zurückdenken, erinnern wir uns, dass die Kreuzritter in dieser Zeit die Probleme zwischen den arabischen Emiren lösten. Fehlt ein zivilisatorischer Plan, entscheidet eben derjenige, der einen Plan besitzt. Und wir verfügen heute tatsächlich über keinen Plan. Unser Plan ist romantisch und basiert auf dem Wunsch nach Rückkehr.
Ist es denkbar, die Art dieses Wunsches zu verändern, um tatsächlich eine Rückkehr zu ermöglichen und somit eine neue Realität zu schaffen? In den 70er Jahren gab es vielleicht eine Antwort, heute haben wir alles verloren. Das Wichtigste wäre im Grunde, dass der einzelne Araber und Palästinenser respektiert wird, damit er frei existieren kann.
Wenn Sie einen Ort mit dem Auto verlassen, benutzen Sie im Film den Rückspiegel, um dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, das Zurückgelassene mitzuverfolgen. Nach jedem Aufbruch schwenkt die Kamera energisch auf ein neues Ziel zu. Wollen Sie mit dieser cineastischen Technik zum Ausdruck bringen, dass das, was Sie hinter sich lassen, Vergangenheit ist, und das, was vor Ihnen liegt die Lösung? Der Film endet an der libanesischen Grenz. Eine Sackgasse?
Khleifi: Das ist die Realität. In unseren Gesellschaften und in der Beziehung zu uns selbst fürchten wir die Wahrheit. Man findet bei uns kaum jemanden, der ein Tagebuch führt. Selbst diejenigen, die über unser Schicksal entscheiden, und die die Macht besitzen, Entscheidungen zu fällen, die unser Leben betreffen, haben niemals geschrieben.
Der Film schneidet mehrere politische Themen an. Kurz vor der Schlussszene an der libanesischen Grenze gibt es eine Szene, in der eine Mutter mit uns spricht, die ihren Sohn bei der israelischen Invasion in den Libanon verloren hat. Sie ist Tunesierin und ihr Mann Marokkaner. Sie erzählt uns, dass sie früher in Tunesien und Marokko ein gutes Leben hatten, und sie betrachtet sich selbst letztendlich als Araberin. Diese Menschen stehen auf unserer Seite. Wir sollten sie nicht verstoßen, weil sie Juden sind. Sonst wären wir Rassisten.
Wie gehen Sie mit der Kritik einiger Intellektueller um?
Khleifi: Das gehört dazu. Das palästinensische Kulturschaffen ist ebenso Zielscheibe der israelischen Armee. Was das Kino betrifft, hat sie 1982 während der Invasion im Libanon das palästinensische Filminstitut und sein Archiv zerstört. Unser Film wird heute von Intellektuellen wie Bernard-Henry Levy angegriffen. Wir befinden uns in einem Gefecht, das mir vertraut ist, seit ich ein barfüßiges Kind in Nazareth war. Mit dem Unterschied, dass ich damals Sohn einer armen Arbeiterfamilie war und heute in New York, Paris und Brüssel lehre. Durch den Glauben, dass ich eine gerechte Sache vertrete und meine cineastische Arbeit deren Ausdruck ist, schöpfe ich meine Energie. Dadurch stehe ich da, wo ich heute stehe. Wir müssen uns befreien, um unsere Verantwortung vor der Realität zu tragen.
Wir dürfen die Opfer nicht dem Peiniger gleichstellen, was wir im Film auch nicht getan haben. Aber das Opfer trägt eine Art Verantwortung, wenn der Peiniger nicht aufhört zu martern. Israel wird weiter peitschen und nichts von sich aus geben, solange die arabischen Völker im Nichtstun verharren. Doch wenn das Opfer die eigene Verantwortung in die Hand nimmt, kann es eigene Fehler, Schwächen und Lähmungen erkennen. Dann beginnen sich die Dinge zu verändern. Ist es nicht verwunderlich und beschämend, dass wir seit Generationen nur Niederlagen erleben?
Die Szene, in der der Friseur über die Massaker in Lod berichtet und über das Verbrennen von über 300 palästinensischen Leichen auf Befehl eines israelischen Kommandanten, wird unmittelbar von einer Szene gefolgt, die Eisenbahnschienen zeigt – was ja ein Symbol für den Transport der Juden in die Gaskammern des Dritten Reiches ist. Mit Absicht?
Khleifi: Einige Zionisten in Paris wollen gegen den Film mobilisieren und konzentrieren sich hierbei auf diese angebliche Verbindung, um vom Rest des Films abzulenken. Die Szene dauert nur ein paar Sekunden und der Film geht über 4 Stunden.
Das ist unsere Geschichte in Palästina. Wir haben das Recht, diese Geschichte zu filmen und werden uns das nicht verbieten lassen. Diesen Friseur trafen wir zufällig. Wir haben kein Casting aller Friseure des Landes durchgeführt. Der Film handelt von der Kolonialisierung Palästinas. Einige wollen nicht, dass man diese Wahrheit und Realität zur Kenntnis nimmt.
Interview: Youssef Hijazi
Aus dem Arabischen von Simone Britz und Youssef Hijazi
© Qantara.de 2004
Mehr über den Film und die beiden Regisseure finden Sie auf der Website des Filmverleihs mecfilm