Gaza hört die Signale vom Tahrir-Platz

Ob der Aufruf zur Rebellion gegen die Hamas in Gaza, der kurz nach dem Sturz Mursis im Internet kursierte, wirklich Gehör findet, ist fraglich. Sicher ist jedoch, dass es im Gaza-Streifen kein unabhängiges Militär gibt, das die Macht hat, die Hamas abzusetzen. Von Ingrid Ross

Von Ingrid Ross

Mit großer Sorge wurde in Gaza die Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi verfolgt. Der Sturz des Präsidenten der Muslimbrüder durch das Militär erschüttert die palästinensische Gesellschaft. Zum einen wird die Schließung des Grenzübergangs Rafah und der Tunnel zwischen Ägypten und dem Gazastreifen die israelische Blockade wieder verschärfen. Zuletzt hatten tausend Personen täglich die Grenze überquert.

Durch die Schließung der Tunnelwirtschaft wird der Warenverkehr wieder gänzlich in den Händen Israels liegen. Zum anderen sehen viele Palästinenser Parallelen zwischen der politischen Situation im Gazastreifen und Ägypten: In beiden Gesellschaften hatten Parteien des politischen Islam die Macht. In Palästina war der Beteiligung am politischen System nicht nur innerhalb der Hamas eine intensive Diskussion vorangegangen.

Auch außenstehende Beobachter fragten sich, ob eine Partei des politischen Islam überhaupt zur demokratischen Beteiligung fähig sei. Ihre Fähigkeit, Prinzipien wie Pluralismus, Toleranz und Meinungsfreiheit anzuerkennen, wurde in Frage gestellt. Optimisten verwiesen auf das türkische Modell, wo die AKP scheinbar problemlos die demokratischen Regeln befolgte.

 Tiefe Spaltung der Gesellschaft

Grenzübergang Rafah am südlichen Gaza-Streifen; Foto: picture alliance/dpa
Einziger Grenzübergang des Gazastreifens und Tor zur Außenwelt: Nach vierjähriger Blockade hatte Ägypten im Mai 2011 wieder den Grenzposten in Rafah geöffnet. Die von Ex-Präsident Mubarak unterstützte israelische Blockade des Gazastreifens war bei der ägyptischen Bevölkerung äußerst unpopulär.

​​Pessimisten verwiesen auf den Iran, in dem ein religiöser Wächterrat Politik und Gesellschaft dominiert. In Ägypten, wie auch in Palästina ist die Herrschaft der Parteien des politischen Islam demokratisch legitimiert gewesen. Während in Palästina unter anderem die internationale Gemeinschaft die Hamas nach ihrem Wahlsieg 2006 boykottierte, waren es in dieser Woche in Ägypten das Militär und Massen Unzufriedener in der Bevölkerung, die für die Absetzung Mursis verantwortlich waren.

In beiden Fällen sind die Gesellschaften tief gespalten. Nicht nur die Frage der Machtteilung, sondern vor allem, welchen Stellenwert die Religion in Politik und Gesellschaft einnehmen soll, trennt die Fronten. Säkulare, westlich orientierte Kreise der Bevölkerung befürchten eine Islamisierung des öffentlichen Lebens, der kulturellen Einrichtungen und der Bildungsinstitutionen.

Feste Regeln für den Schutz von Minderheiten und die Verortung der Religion im gesellschaftlichen Gefüge haben sich weder im von der Hamas regierten Gazastreifen, noch im post-revolutionären Ägypten etabliert. Gleichwohl hat man in Gaza nach sieben Jahren Hamas-Herrschaft einige Mechanismen zum gesellschaftlichen Interessenausgleich eingeübt.

Hamas-Vertreter Chalid Maaschall und Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas bei ihrem Treffen in Kairo; Foto: Getty Images
Verständigung zweier politischer Rivalen: Im Mai 2011 hatte Hamas-Führer Chalid Maschaal in Kairo ein erstes Versöhnungsabkommen mit der Fatah von Mahmoud Abbas unterzeichnet. Darin bekannte sich die Hamas u.a. auch zu einer palästinensischen Einheitsregierung, was ein politisches Novum darstellte.

​​Zivilgesellschaftliche Organisationen haben einen informellen Konsultativstatus erlangt. So wurden besonders umstrittene Gesetze wie beispielsweise das Bildungsgesetz oder das von der Scharia geprägte Strafgesetz von der Hamas mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen diskutiert. Trotz der politischen Spaltung, tagen regelmäßig Komitees zur Vorbereitung der Versöhnung von Fatah und Hamas aus dem Westjordanland und Gaza unter Beteiligung aller palästinensischen Parteien.

Das Komitee für politische Freiheiten hat sich zu einem Gremium entwickelt, in dem grundsätzliche Regelungen der Meinungsfreiheit, Demonstrationsrecht und Bewegungsfreiheit, aber auch aktuelle Fälle von Verhaftungen oder der Behinderung von Reisefreiheit diskutiert werden.

Gefährdeter Versöhnungsprozess

Doch der palästinensische Versöhnungsprozess scheint durch den Militärcoup in Ägypten gefährdet. Nach langen Jahren der Spaltung hatte sich das Bewusstsein durchgesetzt, dass beide Seiten Kompromisse eingehen müssen. Nun erhalten durch den Putsch im Nachbarland diejenigen Aufwind, die sich mit der Hamas nicht arrangieren wollen.

Ob der Aufruf zur Rebellion gegen die Hamas in Gaza, der im Internet kurz nach dem Sturz Mursis kursierte, wirklich Gehör findet, ist fraglich. Sicher ist jedoch, dass hier kein unabhängiges Militär existiert, das die Macht hat, die Hamas abzusetzen. Das wird die Aktionen der oppositionellen Gruppen dämpfen.

Doch wenn sich erneut massenhaft Demonstranten aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten für Versöhnung einsetzen, mag vom Tahrir-Platz in Kairo doch ein positives Signal für Palästina ausgegangen worden sein.

Ingrid Ross

© Qantara.de 2013

Ingrid Ross ist Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ost-Jerusalem.

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de