Der ewige Theologe

Papst Benedikt XVI. war erst dabei, ein Papst zu werden. Er wird den Türken in Erinnerung bleiben als jemand, der in diesem Prozess verloren ging. Der türkische Journalist Kerim Balci berichtet, wie türkische Muslime den Papst sahen.

Von Kerim Balci

Türken sehen globale Angelegenheiten oft aus der Perspektive ihrer eigenen inländischen Politik. Die unerwartete Abdankung von Papst Benedikt XVI. wurde in der Türkei mit den aktuellen Rücktritten von Politikern verglichen, die wegen anstößiger Videos ihre Ämter niederlegen mussten.

So soll auch im Fall des Papstes ein unbekanntes Video - höchstwahrscheinlich existiert es gar nicht - den Anstoß zu seiner Entscheidung gegeben haben. "Er wurde gezwungen, sein Amt anzunehmen, und gezwungen, sein Amt niederzulegen." So beurteilt man auf den Straßen in der Türkei den freiwilligen Rückzug des Papstes.

Der "konspirative Vatikan"

Der verborgene Vatikan, Machtkämpfe in den Gewölben des Petersdoms und der arme gewählte Papst, ohne Vertraute und ohne Macht - die türkische Auffassung von einem konspirativen Vatikan ist älter als die vom eigenen korrupten Staat. Während des Papst-Besuchs in der Türkei Ende 2006, der als Versöhnungsakt nach seiner umstrittenen Regensburger Rede verstanden wurde, lagen schlecht geschriebene Dan-Brown-Kopien in den türkischen Buchläden aus. Eine davon stammt von einem gewissen Yücel Kaya und trägt den Titel: "Wer wird den Papst in Istanbul töten?"

Kaya wusste wohl nichts von der Brisanz, die ein Mordanschlag auf den Papst bedeutet. Das Attentat auf Papst Johannes Paul II. im Jahr 1981, verübt von dem türkischen Ultranationalisten Mehmet Ali Agca, galt als Eintritt des sogenannten Dritten Geheimnisses von Fátima. Die Prophezeiung dreier Hirtenkinder aus der portugiesischen Stadt stammt aus dem frühen

20. Jahrhundert, der Vatikan hielt sie lange unter Verschluss. Sie gelangte 2000 unter anderem durch Joseph Ratzinger an die Öffentlichkeit. Von diesem beraten, nutzte Johannes Paul II. das "Dritte Geheimnis", um sich als gottgewollter Papst bestätigt zu sehen, der Kirche dienend bis zu seinem gottgewollten Tod.

Dieser Schachzug sollte die Argumente derer aushebeln, die den Rücktritt des Papstes wegen seines Alters forderten. Den päpstlichen Auftrag damit zu fundieren, war entweder die clevere Idee von seinem zukünftigen Nachfolger Ratzinger oder vom Papst selbst.

Der "Geist Joseph Ratzingers"

Proteste pakistanischer Muslime gegen den papst und die Regensburger Rede im September 2006; Foto: AP/Roshan Mughai
"Der Theologe ist mit ihm durchgegangen": Als Papst Benedikt XVI. in einer Rede an der Universität Regensburg im September 2006 äußerte, der Islam sei eine Religion, die nicht zum Fortschritt der menschlichen Zivilisation beigetragen habe, löste dies Empörung und Proteste in der islamischen Welt aus.

​​Zumindest in den Augen eines durchschnittlichen Türken passte Papst Benedikt XVI. nie in die Schuhe seines Vorgängers. Im Gegensatz zu Johannes Paul II. trug Benedikt XVI. wieder die traditionellen roten Papstpantoffel. Dies änderte aber nichts daran, dass der Papst für die Türkei immer noch ein polnisches Gesicht hatte. Ein Bild, das sich tief ins kollektive Gedächtnis der Türken eingebrannt hat.

Papst Benedikt XVI. war erst dabei, ein Papst zu werden. Er wird den Türken in Erinnerung bleiben als jemand, der in diesem Prozess verloren ging. Er schaffte es nie, sich von dem deutschen Theologen Dr. Joseph Ratzinger zu befreien. Beispielhaft dafür ist die gemeinnützige Organisation "Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI. Stiftung", die von seinen Studenten gegründet wurde. Ihre Einnahmen stammen zwar hauptsächlich aus dem Verkauf päpstlicher Schriften Benedikts XVI., das erklärte Ziel der Stiftung aber ist, "Theologie im Geiste von Joseph Ratzinger zu fördern".

Dieser "Geist Joseph Ratzingers" suchte den Papst während seiner Rede an der Universität Regensburg im September 2006 heim, als er die Empfindsamkeit der muslimischen Welt mit dem scheinbar unbeabsichtigten Vorwurf verletzte, der Islam sei eine Religion, die nicht zum Fortschritt der menschlichen Zivilisation beigetragen habe.

Der Regensburger Fehltritt und seine Folgen

Papst Benedikt XVI. besucht die Blaue Moschee in Istanbul, November 2006; Foto: EPA/Patrick Hertzog
Akt der Versöhnung: Im November 2006 reiste Papst Benedikt XVI. nach Istanbul und betete in der Blauen Moschee, das Gesicht gen Mekka gewandt. "Die Türken schrieben diesem Gebet eine große Bedeutung zu: Auch wenn ihm die Regensburger Rede nicht gänzlich "vergeben" war, gewannen viele den Eindruck, dass der Papst [...] nun bereit war, den Austausch zwischen der katholischen und muslimischen Welt neu zu gestalten", schreibt Balci.

​​Um Ratzingers Bezugnahme auf den byzantinischen Kaiser Manuel II. Palaiologos ungeschehen zu machen, reiste Benedikt XVI. nach Istanbul und traf dort - die Hagia Sophia als potenziellen Gebetsort auslassend - städtische Muslime in der Blauen Moschee zum stillen Gebet, das Gesicht gen Mekka gerichtet.

Wie zuvor schon seine kritischen Äußerungen hatte auch diese Geste weitreichendere Auswirkungen. Denn die Türken schrieben diesem gemeinsamen Gebet eine besonders große Bedeutung zu: Auch wenn ihm die Regensburger Rede nicht gänzlich "vergeben" war, gewannen viele den Eindruck, dass der Papst eine schmerzhafte Lehre aus seinem Fehler gezogen hatte und nun bereit war, den Austausch zwischen der katholischen und muslimischen Welt neu zu gestalten.

Damit sollten sie nicht ganz falsch liegen. Benedikt XVI. besuchte das Direktorat für Religiöse Angelegenheiten, ein beispielloses Ereignis in der Geschichte der Türkei. Das Direktorat beschloss, an den Treffen des Katholisch-Muslimischen Forums teilzunehmen, dessen erste Sitzung 2008 im Vatikan abgehalten wurde.

Benedikt XVI. verhalf auch dem Päpstlichen Rat für den Interreligiösen Dialog (PCID) zu neuer Blüte, indem er ihm seinen früheren eigenständigen Status wieder zuerkannte. Der Rat, dem auch die Päpstliche Kommission für religiöse Beziehungen zu den Muslimen angeschlossen ist, war 2006 von Papst Benedikt XVI. unter die Leitung des Präsidenten des Päpstlichen Rates für Kultur gestellt und somit seiner Autonomie beraubt worden.

Im Jahr 2007 aber erhielt der Rat einen eigenen Präsidenten, Kardinal Jean-Louis Tauran, und ist nun mindestens so tatkräftig wie zur Amtszeit von Johannes Paul II. Dennoch fehlt es der Päpstlichen Kommission für religiöse Beziehungen zu den Muslimen weiterhin an Eigenständigkeit - im Gegensatz zur Päpstlichen Kommission für religiöse Beziehungen zu den Juden.

Bereitschaft zum interreligiösen Dialog?

Die Stärke der katholisch-muslimischen Bande wurde während Benedikts Amtszeit weitere Male auf die Probe gestellt: einmal durch den Mord an dem katholischen Geistlichen Andrea Santoro 2006 in Trabzon; und zum anderen 2010 durch den Mord an Bischof Luigi Padovese, dem apostolischen Vikar für Anatolien. Doch der Vatikan kritisierte danach weder die türkische Regierung noch den türkischen Islam. Vielmehr nahmen die Familien der ermordeten Geistlichen ihren Schmerz zum Anlass, neue Pfade des interreligiösen Dialogs zu ebnen.

Im September 2012 besucht Papst Benedikt XVI. den Libanon. Zehntausende Gläubiger nahmen an der Messe des Papstes in Beirut teil; Foto: Hussein Malla/AP/dapd
Appell an Christen und Muslime zu Frieden und Verständigung: Im September 2012 besuchte Benedikt XVI. den Libanon. In seiner Abschiedsmesse nahm er Bezug auf die eskalierende Gewalt im Nahen Osten und verkündete: "Es ist Zeit, dass Muslime und Christen sich vereinen, um der Gewalt und den Kriegen ein Ende zu setzen."

​​Letztlich aber schienen die muslimischen Gesprächspartner Benedikts XVI. mehr am interreligiösen Dialog interessiert zu sein, als man es vom Papst selbst behaupten kann. Während Johannes Paul II. noch zwei Jahrzehnte lang auf eine Antwort der muslimischen Welt auf die Deklaration der "Nostra Aetate" von 1964 bezüglich des interreligiösen Austausches warten musste, versuchte Benedikt XVI., einem Netzwerk gesprächsbereiter Muslime in führenden Positionen aus der ganzen muslimischen Welt gerecht zu werden.

So wurde das Katholisch-Muslimische Forum auf einen offenen Brief von 138 muslimischen Theologen hin gegründet, in dem sie zu Frieden und Zusammenarbeit zwischen der katholischen Kirche und der muslimischen Welt aufriefen. Nicht nur das Direktorat für Religiöse Angelegenheiten, sondern auch wichtige religiöse Organisationen wie die Gülen-Bewegung hatten den Dialog längst befürwortet.

Niemand versuchte, den Papst in Istanbul zu töten. Bedenkt man jedoch die Anfälligkeit der Türken für Verschwörungstheorien, wäre es keine Überraschung, wenn wir bald in den türkischen Buchhandlungen Bestseller sähen mit Titeln wie: "Wer zwang den Papst in Rom zum Rücktritt?"

Kerim Balci

© Süddeutsche Zeitung 2013

Kerim Balci ist Buchautor und Chefredakteur des Magazins "Turkish Review".

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de