Kippt der Irak Richtung Iran?
Das irakische Parlament hat beschlossen, dass die Parlaments- und Lokalwahlen am 12. Mai dieses Jahres stattfinden werden. Dies geschah trotz Protesten der irakischen Sunniten. Sie waren der Ansicht, die Wahlen sollten hinausgeschoben werden, bis die Massen der heute in Lagern lebenden Sunniten in ihre Heimatstädte zurückkehren könnten.
Die große Mehrzahl der Vertriebenen sind Sunniten. Sie wurden durch den Krieg gegen den "Islamischen Staat" (IS) zur Flucht gezwungen. Unter ihnen befinden sich die früheren Bewohner von Mossul, einst der zweitgrößten Stadt des Iraks.
Die Sunniten forderten auch, Bewaffnete sollten bei den Wahlen nicht präsent sein – außer den Angehörigen der offiziellen Sicherheitskräfte, der Armee und der Polizei. Damit weisen die Sunniten darauf hin, dass sich gerade in den Gebieten und Ortschaften, die vom IS zurückerobert worden waren, neben den "regulären" Kräften auch Bewaffnete der sogenannten "Volksmobilisierung" befinden.
Sie dienen in den "befreiten" Gebieten dazu, die offiziellen staatlichen Sicherheitskräfte zu ergänzen. Diese würden allein nicht ausreichen, um die immer noch eher chaotischen Zustände in den bisherigen Kriegsgebieten zu meistern.
Die Angst der Sunniten
Die Kräfte der "Volksmobilisierung", überwiegend Schiiten, sind zwar "offizialisiert" worden, indem sie in die Armee eingegliedert wurden. Sie werden vom Staat bezahlt und unterstehen offiziell dem Befehl des Ministerpräsidenten. Doch sie verfügen als eigene Körperschaften über einen eigenen Kommandanten und eigene Strukturen. Das bedeutet, dass sie in der Praxis in der Lage sind, auf eigene Faust und auf eigene Initiative zu handeln.
Viele Sunniten fürchten sich vor ihnen. Während der Kämpfe gegen den IS ist es vorgekommen, dass die schiitischen "Volkstruppen" Gefangene und Zivilisten gefoltert haben. Die Schiiten warfen vielen Sunniten vor, zum IS zu gehören und mit ihm zusammenzuarbeiten. Mit den Folterungen sollten entsprechende Geständnisse erpresst werden.
Auch zu summarischen Hinrichtungen kam es. Zudem hinderten viele Schiiten die Sunniten daran, in ihre Häuser zurückzukehren und ihre Felder zu bewirtschaften. So erhielten die Schiiten die Möglichkeit, sich in den Häusern der geflohenen Sunniten niederzulassen und die Felder selbst zu beackern.
Die Regierung in Bagdad versuchte, solche Vorkommnisse zu unterbinden. Doch es gab derart viele Fälle, dass die Angst der Sunniten vor der Volksmobilisierung wuchs. Manche der sunnitischen Parteien erklärten, es würde einem "Staatsstreich" gleichkommen, wenn in ihren Gebieten unter den gegenwärtigen Verhältnissen Wahlen durchgeführt würden. Sie meinten damit einen Staatstreich der schiitischen Bewaffneten gegen die in Lagern eingeschlossenen wehrlosen Sunniten.
Die Helden von früher
In der Tat sind die Milizen der "Volksmobilisierung" der wichtigste neue Faktor bei den bevorstehenden Wahlen. Zwar dürfen Bewaffnete im Irak nicht wählen und nicht kandidieren, und die Milizen der Volksmobilisierung gehören zu den Bewaffneten. Doch die politisch Ehrgeizigen unter ihren Anführern umgehen diese Regelung, indem sie offiziell aus den von ihnen geführten Milizen austreten und eigene "Parteien" bildeten.
Diese Anführer sind in ihren Heimatgebieten äußerst beliebt. Für viele ihrer Mitbürger sind sie die Helden, die sich im Sommer 2014 mutig erhoben und Bagdad sowie die südlichen Landesteile verteidigten. Damals war die irakische Armee zusammengebrochen und der IS war von Mossul aus bis an die Hauptstadt vorgerückt.
Später waren sie immer dabei, als die besetzten Gebiete zurückerobert wurden. Sie kämpften bis nach Mossul hinauf und darüber hinaus bis Tel Afar. Manche ihrer Anhänger und Bewunderer betonen den Unterschied zwischen ihnen und den "Politikern" und "Armeegenerälen". Letztere täten nichts, als Geld in die eigene Tasche schaufeln und vor dem IS davonlaufen. Da und dort kursierte gar der Vorwurf, sie seien schuld daran, dass der IS überhaupt entstehen und sich ausbreiten konnte.
Die pro-iranische "Eroberungsallianz"
Welchen politischen Einfluss diese Milizenführer haben, ist unklar. Viele Beobachter messen ihnen jedoch eine erhebliche Bedeutung zu. Doch lange nicht alle Gruppierungen der "Volksmobilisierung" haben politischen Ehrgeiz entwickelt.
Viele sind dem Aufruf der hohen irakischen Geistlichen gefolgt. Diese fordern, die Politik solle den Politikern überlassen werden. Zu diesen Geistlichen gehört Ali al-Sistani, der wichtigste irakische Ayatollah.
Doch die pro-iranischen Milizen, die mehr auf Khamenei in Teheran als auf Sistani in Nadschaf hören, verfolgen politische Ziele. Sie haben sich unter der Führung von Hadi al-Ameri zu einer politischen Allianz zusammengeschlossen: der "Tahaluf al-Fatah", der Eroberungsallianz.
Zu ihr gehört einerseits die Badr-Organisation, die von Al-Ameri angeführt wird. Dabei sind auch mehrere pro-iranische Gruppen, wie "Asa'ib Ahl al-Haqq" und "Kata'ib al-Imam Ali", die bekannt für ihre fanatische Parteinahme für Iran sind.
Die "Bürger-Allianz"
Eine weitere Gruppierung, die bisher der gleichen Strömung angehörte, hat sich von der Eroberungsallianz getrennt. Es handelt sich um die Gruppe, die sich um Abdul-Aziz al-Hakim, einem Gelehrten, gebildet hatte. Sie nannte sich früher SCIRI ("Supreme Council of the Iraqi Revolution in Iran") und hatte im iranisch-irakischen Krieg von 1980 bis 1988 auf Seiten Irans gekämpft.
Abdul-Aziz al-Hakim starb 2009. Sein Sohn Ammar al-Hakim hat jetzt die Gruppierung von Iran getrennt. Er gab ihr den Namen "Nationale Weisheitsbewegung" und baute sich eine eigene Allianz auf: die "Bürger-Allianz".
Die Parteien im Irak sind meist klein. Oft bestehen sie nur aus den Anhängern einzelner einflussreicher Persönlichkeiten. Deshalb sind Allianzen entscheidend. Für die bevorstehenden Wahlen sind 238 Parteien eingeschrieben. Von ihnen haben sich 143 zu 27 unterschiedlichen Allianzen zusammengeschlossen und registriert. Diese Bündnisse stellen gemeinsame Kandidatenlisten auf. Gewählt wird in den 18 Provinzen des Landes. Jede Provinz bildet einen eigenen Wahlkreis.
Ministerpräsident Haider al-Abadi hat eine eigene Allianz gebildet, die er die "Siegesallianz" (Victory) nennt. Der "Sieg" bezieht sich auf die Aufreibung des "Islamischen Staats", die unter seiner Verantwortung zustande kam. Die Allianz umfasst eine große Zahl von kleineren sunnitischen und schiitischen Gruppen, die alle vom Prestige des siegreichen Ministerpräsidenten profitieren wollen.
Maliki gegen Abadi
Der Abadi-Allianz steht ein Bündnis des früheren Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki gegenüber. Seine Allianz nennt sich, wie schon bei früheren Wahlen, "Staat der Gesetzlichkeit" (State of Law).
Eigentlich gehören die beiden, Abadi und Maliki, der gleichen Partei an, der schiitischen "Da'wa" (Ruf). Sie hatte einst aus dem Untergrund heraus Saddam Hussein Widerstand geleistet. Heute jedoch sind Abadi und Maliki Rivalen. Maliki sympathisiert mit Iran und kritisiert den Ministerpräsidenten wegen seiner Kollaboration mit den Amerikanern. Die Mitglieder der "Da'wa"-Partei können sich frei für den einen oder den anderen entscheiden.
Muqtada Sadr als "linke" Opposition
Ein weiterer einflussreicher Schiite, Muqtada Sadr, hat sich geweigert, bei einer der großen Schiitenallianzen mitzuwirken. Muqtada Sadr ist Anführer und Idol der großen Massen der schiitischen Slum-Bewohner von Sadr City, dem nordöstlichen Stadtteil von Bagdad. Er ist Spross einer bekannten Gelehrtenfamilie, die von Saddam Hussein beinahe völlig ausgerottet worden war.
Während der Zeit der amerikanischen Besatzung kämpfte er gegen die USA. Im Parlament verfügt seine Gruppe über 34 Abgeordnete. Statt mit der Abadi- oder der Maliki-Allianz zu fusionieren, hat er ein Bündnis mit den irakischen Kommunisten und andern kleineren Linksgruppen geschlossen. Dieses Bündnis nennt er "Allianz der Revolutionäre".
Diese Allianz hatte sich schon 2016 gebildet. Damals demonstrierten Muqtada Sadr und seine "Linkskräfte" gegen die Korruption der irakischen Politiker. Die Manifestanten drangen zum Teil bis ins Innere der "Grünen Zone" vor. Dabei handelt es sich um ein parkähnliches Gelände mit einem Palast, den Saddam Hussein für sich bauen ließ. Von hier aus regierten die Amerikaner als Besatzungsmacht von 2003 bis 2010. Später wurde die "Grüne Zone" aus Sicherheitsgründen zum hermetisch abgeschlossenen Standort des irakischen Parlamentes und der ausländischen Botschaften.
Auf der Liste der korruptesten Staaten der Welt befindet sich der Irak auf Platz 10. Sadr will aber nicht nur die Korruption bekämpfen, sondern auch die Art und Weise, wie Führungspositionen im Staat und der staatlichen Wirtschaft verteilt werden. Solche Positionen werden noch immer nach religionsgemeinschaftlichen Kriterien vergeben.
Also: Die irakischen Schiiten, die einst gemeinsam auftraten, sind nun in fünf Allianzen gespalten, die gegeneinander konkurrieren.
Im Vorfeld der Wahlen, als bereits über die Bildung der Allianzen geschachert wurde, kamen mehrmals hohe Berater des iranischen Religionsführers Ali Khamenei nach Bagdad, um mit den irakischen Schiitenpolitikern zu sprechen. Die iranischen Emissäre versuchten offenbar, die Schiiten dazu zu bewegen, sich nicht zu konkurrieren und zusammenzuhalten.
Ziel war es offensichtlich, dass das Amt des Ministerpräsidenten in schiitischer Hand bleibt. Sowohl Maliki als auch Abadi sind Schiiten. Doch die iranischen Unterhändler konnten sich offensichtlich nicht durchsetzen und die Schiiten einigen. Die Rivalitäten unter den schiitischen Führungspersonen erwiesen sich als unüberwindbar.
Zwei Hauptallianzen der Sunniten
Die Zersplitterung der Schiiten könnte bewirken, dass sie die Chance verpassen, als stärkste Formation eine Koalitionsregierung bilden zu können. Herausgefordert werden sie vor allem von Iyad Allawi, einem säkularen Politiker. Er könnte sich mit anderen, nicht religionsgebundenen Gruppen zu einer Koalition zusammenschließen.
Die Sunniten haben zwei Hauptallianzen gebildet: Zum einen geht der gegenwärtige Parlamentssprecher Salim Dschaburit ein Bündnis mit dem säkular ausgerichteten Schiiten und früheren Ministerpräsidenten aus der amerikanischen Zeit, Iyad Allawi, ein. Dieser wiederum arbeitet mit säkularen Sunniten und Schiiten. Eine zweite sunnitische Allianz wird angeführt von Osama al-Nudschaifi, dem früheren Gouverneur von Mossul. Diesem Bündnis gehören zwei weitere einflussreiche Politiker der Provinz Niniveh an, in der Mossul liegt.
Allawi gilt als ein Befürworter des von Bagdad aus zentral geleiteten Staates. Nudschaifi wirbt für einen föderativen Irak. Wie die Kurden sollten seiner Meinung nach auch die Sunniten innerhalb des Staates einen autonomen Teilstaat bilden können.
Allawi hatte in den Wahlen von 2010 eine knappe Mehrheit erlangt, konnte aber keine Regierung bilden, weil ihm die Koalitionspartner fehlten. Maliki, der damals zweiter wurde, gelang es, nach zähen Manövern eine Regierungskoalition zu bilden.
Gegenwärtig haben die Schiiten mit mehreren aussichtsreichen Allianzen die bessere Chance, eine Koalition zu bilden. Die Sunniten hingegen treten nur mit zwei größeren Allianzen an. Zudem sind sie durch den Krieg gegen den IS, der vor allem in sunnitischen Gebieten stattfand, geschwächt und geschädigt.
Auch die kurdische Politik steckt in einer tiefen Krise. Der Kurdenführer Masud Barzani ließ im September letzten Jahres in der autonomen irakischen Region Kurdistan ein "Unabhängigkeitsreferendum" durchführen. Die Zentralregierung und ihre Armee griffen ein. Folge war, dass die Kurden die "umstrittenen Gebiete" rund um die autonome Region Kurdistans, einschließlich Kirkuks, räumen mussten. Nach diesem schweren Schlag gerieten die beiden "historischen" Parteien Kurdistans in scharfe Kritik, vor allem vonseiten jüngerer, neuer Parteien. Bei diesen historischen, bisher dominierenden Parteien handelt es sich um die PDK ("Kurdische Demokratische Partei") und die PUK ("Kurdische Unionspartei").
Beide verfügen über einen eigenen bewaffneten Arm von Peschmerga-Kämpfern. Sie haben sich jetzt zusammengeschlossen und wollen bei den Wahlen gemeinsam auftreten, um ihre bisherige Dominanz zu verteidigen. Dies, obwohl sie für den Verlust Kirkuks und der anderen umstrittenen Gebiete verantwortlich gemacht werden.
Vergiftetes Klima in Kurdistan
Gegen sie treten jetzt Gruppierungen von "neuen" Parteien an. Ihr Einfluss wächst, vor allem auch deshalb, weil der Groll gegenüber den historischen Parteien zunimmt. Die kurdische Staatskasse ist leer und die Staatsangestellten sowie auch die Peschmerga-Kämpfer können seit Monaten nicht mehr bezahlt werden. Demonstrationen von Staatsangestellten und anderen Bürgern, die die Bezahlung der Löhne fordern, werden von der Polizei und Peschmerga-Kämpfern der historischen Parteien niedergeschlagen.
Von diesem vergifteten Klima profitieren die kurdischen Oppositionsparteien, vor allem die seit 2009 bestehende "Gorran" ("Wechsel"). Sie ist vor allem in den südlichen Gebieten von Irakisch-Kurdistan aktiv und erfolgreich.
Was das alles für die Wahlen und ihren Ausgang bedeuten wird, ist gegenwärtig sehr ungewiss. Masud Barzani, zwölf Jahre lang Präsident der Kurdengebiete, Parteichef der PDK und der "starke Mann" in den nördlichen Landesteilen, ist nach dem Eingreifen der irakischen Armee zurückgetreten. Doch scheint er nicht bereit zu sein, endgültig aus der Politik auszuscheiden.
Nach dem Ausgang der Wahlen wird jene Allianz, welche die meisten Stimmen erhält, aufgefordert werden, mit anderen Allianzen über die Bildung einer Regierungskoalition zu verhandeln, um damit eine parlamentarische Mehrheit zu bekommen. Die Schiiten werden gespalten sein in radikal pro-iranische Gruppierungen, die mit der gegenwärtigen "Fatah"-Allianz zusammengehen, und in jene Kräfte irakischer Ausrichtung, die mit der Allianz von Ministerpräsident Abadi sympathisieren.
Pro-Iran oder mit den USA und Saudi-Arabien?
Eine dritte Richtung unter den Schiiten wird durch Muqtada Sadr verkörpert werden. Er hat klar gemacht, dass er bereit ist, mit allen Formationen zusammenzuarbeiten, die die Korruption energisch bekämpfen wollen. Die religiöse Zugehörigkeit würde dabei keine Rolle spielen. Doch Sadr wird kaum am meisten Stimmen gewinnen, und so wird auch er nicht die Möglichkeit erhalten, eine Koalitionsregierung bilden zu können.
In den arabischen Ländern und der übrigen Welt interessiert man sich vor allem dafür, ob im Irak künftig pro-iranische oder pro-irakische Kräfte an der Macht sein werden. Davon hängt ab, auf welche Seite sich der Irak im saudisch-iranischen Vormachtsringen schlagen wird. Und es geht auch darum, ob die irakische Armee weiterhin mit den Amerikanern zusammenarbeitet oder ob künftig die iranischen Revolutionsgardisten das Sagen haben.
Das irakische System ist geradezu dazu geschaffen, dass die Korruption sich ausbreitet. Muqtada Sadrs Forderung nach Reformen ist also mehr als gerechtfertigt. Die Politiker in der "Grünen Zone" sind mit ihren Eigeninteressen derart beschäftigt, dass sie kaum Zeit haben, an ihr Land zu denken. Das zur Verfügung stehende Geld verbrauchen sie selbst. Es geht den Politikern und ihren Klienten vor allem darum, rentable Positionen im Staat zu ergattern. Kenntnisse fachlicher Natur werden in diesem Spiel der Beziehungen und Verbindungen zur Nebensache.
Arnold Hottinger
Arnold Hottinger zählt zu den namhaftesten europäischen Experten des Nahen- und Mittleren Ostens. Über 30 Jahre lang arbeitete der Orientalist als Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung" aus Beirut, Madrid und Nikosia. Er verfasste zahlreiche Bücher über die Politik und Kultur der islamischen Welt, u.a. "7mal Naher Osten" (1988), "Gottesstaaten und Machtpyramiden. Demokratie in der islamischen Welt" (2000), "Islamische Welt: Der Nahe Osten: Erfahrungen, Begegnungen, Analysen" (2004).