Ein Triumph für Putin
Experten, die sich mit der aktuellen türkischen Politik befassen, sind sich in einem wichtigen Punkt einig: Die außenpolitische Agenda von Präsident Erdogan ist entscheidend von innenpolitischen Überlegungen bestimmt. Dies gilt in besonderem Maße für Ankaras Politik gegenüber dem Nachbarland Syrien. Wie kein anderes außenpolitisches Thema beherrscht der arabische Staat in diesen Tagen den Wahlkampf in der Türkei.
Diese Dominanz der Syrien-Politik ist für Erdogan nicht neu, sondern eine Konstante seiner 20-jährigen Herrschaft zunächst als Ministerpräsident, dann als Staatspräsident, argumentiert Gönül Tol in ihrem neuen Buch "Erdogans War. A Strongman’s Struggle at Home and in Syria“ (Verlag Hurst and Co. Publishers 2022) (dt. "Erdogans Krieg. Der Kampf eines Machtmenschen im Inland und in Syrien"): "Für Erdogan geht es bei der Außenpolitik zunächst und vor allem um die innenpolitische Strategie der Machterhaltung. Syrien hat einen einzigartigen Platz in Erdogans politischer Überlebensstrategie“, so die Expertin in ihrem 300-seitigen Werk.
In Syrien stehen für Ankara seit jeher zentrale nationale Interessen auf dem Spiel. Aktuell stehen die syrischen Kurden, die im Norden Syriens, entlang der gemeinsamen Grenze, eine erfolgreiche Autonomieverwaltung aufgebaut haben, im Brennpunkt. Die türkische Regierung sieht diese als Fortsetzung der PKK-Politik unter einem anderen Namen.
Ein weiteres Thema sind die offiziell 3, 6 Millionen syrischen Flüchtlinge, die im Zuge des Bürgerkrieges in der Türkei eine neue Heimat gefunden haben. Von der anfänglichen "Willkommenskultur“ ist wenig geblieben. Eine Mehrheit der Türken würde die Menschen lieber heute als morgen zurück über die Grenze schicken. Ausländerfeindliche Übergriffe haben in letzter Zeit zugenommen. Teile der Opposition heizen die Stimmung mit zum Teil rassistischen Parolen an. Die Flüchtlingsfrage ist zu einem explosiven Wahlkampfthema geworden – und bringt die Regierung in Zugzwang.
Radikale Kehrtwende?
Derweilen mehren sich die Hinweise, dass eine nur als radikal zu bezeichnende Kehrtwende der türkischen Syrien-Politik in Vorbereitung ist. Anfang des neuen Jahres hat Präsident Erdogan ein weiteres Mal - und deutlicher als zuvor – von der Möglichkeit eines Gipfeltreffens mit dem syrischen Diktator Assad gesprochen. Ein derartiges Treffen wäre der Höhepunkt eines seit Monaten hinter den Kulissen von Moskau betriebenen Prozesses, dessen Ziel die Normalisierung der Beziehungen zwischen Ankara und Damaskus ist. "Wir haben einen Prozess als Russland-Türkei-Syrien auf den Weg gebracht“, so der türkische Präsident zum vereinbarten Verfahren. "Wir werden unsere Außenminister zusammenbringen und danach, abhängig von den Entwicklungen, als Führer zusammenkommen.“
Vorangegangen war ein Treffen der Verteidigungsminister der drei Länder kurz vor der Jahreswende in Moskau, bei dem - dem Vernehmen nach - unter russischer Ägide wichtige Verfahrensfragen geklärt wurden und im Anschluss die Perspektive eines Gipfeltreffens zwischen Erdogan und dem syrischen Diktator Assad öffentlich kommuniziert wurde.
Die komplette Zerrüttung der bilateralen Beziehungen zwischen Ankara und Damaskus im Zuge des syrischen Bürgerkriegs verdeutlicht die diplomatische Dramatik, die ein Tête-à-Tête auf höchster politischer Ebene hätte. Das letzte Mal kam ein führendes Regierungsmitglied aus der Türkei mit Assad vor über elf Jahren zusammen. In der Zwischenzeit avancierte die Türkei zum wichtigsten Unterstützer der syrischen Opposition, ja zeitweilig zum Sprungbrett und Aufmarschgebiet der bewaffneten Assad-Gegner.
Auf der anderen Seite war und bleibt Russland die wichtigste Stütze des Regimes in Damaskus. Schon dieser Umstand erklärt das Interesse Putins an einem syrisch-türkischen Ausgleich.
Triumph für Moskau
Ein Gipfeltreffen zwischen Assad und Erdogan wäre ein politischer Triumph für Putin - und eine Niederlage für die Amerikaner. Doch nicht nur Moskau und Washington ringen in Syrien um Macht und Einfluss: Eine zentrale Rolle in der internationalen Syrien-Diplomatie spielen die Vereinigten Arabischen Emirate, die sich für eine Normalisierung der Beziehungen zu Assad einsetzen. Die Machthaber in Abu Dhabi sind der Meinung, dass das schrittweise Herausführen des Regimes aus der weitreichenden politisch-diplomatischen Isolation den wachsenden Einfluss des Iran in Damaskus bremsen würde.
Dass die Emiratis an vorderster diplomatischen Front mitmischen, zeigt der Besuch ihres Außenministers Abdullah bin Zayed Al-Nahyan in Damaskus Anfang dieses Jahres. Der Politiker hatte bereits im November 2021 Syrien in offizieller Mission besucht; zwischenzeitlich empfingen die Emirate den syrischen Diktator höchstpersönlich zu einem offiziellen Besuch am Golf.
Die Sorge um den wachsenden Einfluss Teherans bestimmt auch die Politik Israels, dessen Luftwaffe immer wieder Angriffe gegen mutmaßliche iranische Ziele in Syrien fliegt, so zuletzt zu Beginn des neuen Jahres, als der internationale Flughafen von Damaskus einmal mehr ins Fadenkreuz geriet. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu gab derweil zu Protokoll, seine Regierung werde an der Militär-Politik gegenüber dem Nachbarland festhalten: Israel "wird harte Maßnahmen ergreifen, um ein militärisches Festsetzen des Iran in Syrien und anderenorts zu verhindern und wir werden nicht warten“.
Tauschgeschäft der besonderen Art
Während es somit keine Anzeichen für ein Ende der militärischen Übergriffe Israels auf Ziele in Syrien gibt, sieht es an der türkisch-syrischen Front möglicherweise bald anders aus: Die politische Grundlage für eine sich abzeichnende türkisch-syrische Vereinbarung ist laut Medienberichten ein Tauschgeschäft der besonderen Art.
Im Gegenzug zu Ankaras Anerkennung Assads als Herrscher über Syrien und der Normalisierung der bilateralen Beziehungen auf allen Ebenen, werde sich Damaskus verpflichten, so heißt es, die kurdischen Strukturen im Norden Syriens zu zerschlagen und dafür zu sorgen, dass diese bei künftigen Friedensverhandlungen keine Rolle spielen.
Es bleibt abzuwarten, wie die USA, die wichtigsten Verbündeten der Kurden Syriens, auf die aktuellen Entwicklungen reagieren werden. Bis jetzt heißt es lediglich, dass Washington eine Normalisierung der Beziehungen zu Assad ablehnt. "Wir werden (unsere Beziehungen zu Assad) nicht normalisieren und wir unterstützen die Normalisierung seitens anderer Länder mit dem Assad-Regime nicht“, so die Erklärung des Sprechers des US-Außenministers, Ned Price, zu den aktuellen Entwicklungen im Handlungsdreieck Moskau, Ankara, Damaskus.
In Ankara, das ist offensichtlich, hat der Hinweis aus Washington keinen Eindruck hinterlassen. In der Syrien-Politik hört Erdogan auf Putin und nicht auf Biden, soviel ist sicher.
Es ist zu befürchten, dass die Kurden, die auf die amerikanische Karte gesetzt haben und Washington bei der Bekämpfung des Islamischen Staates (IS) in Syrien zur Seite stehen, für den Fall, dass die Pläne Putins, Erdogans und Assads umgesetzt werden, einmal mehr die großen Verlierer sind.
Wahlkampfhilfe für Erdogan?
Für Erdogan, dessen Entscheidungen zunehmend von den für sein Lager schlechten Umfrageergebnissen getrieben werden, wäre das Geschäft mit dem syrischen Diktator möglicherweise der Schlüssel zum Erfolg an den Wahlurnen. Umfragen zeigen, dass nach der Wirtschaftskrise die syrischen Flüchtlinge das wichtigste Thema für die Menschen sind. Die Opposition hat erklärt, im Falle ihres Wahlsiegs die Syrer lieber heute als morgen zurückzuschicken. Ein politisches Abkommen, das eine derartige Rückführung festschriebe, zudem ein Vertrag, der das Ende der Kurdenmilizen im Grenzgebiet besiegeln würde, käme einem politischen Himmelsgeschenk für Erdogan gleich.
Die von ihm kontrollierten Medien würden den um die Macht fürchtenden Präsidenten als großen und erfolgreichen Strategen feiern, der das Kurden- und das Migrationsproblem gelöst hat – und zwar ohne dafür die vielfach angedrohte Militäroperation mit Bodentruppen im Norden Syriens durchzuführen.
Auffällig ist, dass alle Seiten betonen, sie seien an einer friedlichen Lösung interessiert. Die persönliche Geschichte der drei Schlüsselfiguren rät zur Vorsicht: Assad, Erdogan und Putin haben bislang vor allem als Kriegstreiber von sich reden gemacht. Es wäre ein Wunder, wenn Moskaus Syrien-Initiative das geschundene Land einem von allen Seiten getragenen Frieden näherbrächte.
© Qantara.de 2023