"Das Wunder von al-Andalus"

Der C.H. Beck Verlag vermittelt seit einigen Jahren arabische Literatur. Die Anthologie "Das Wunder von al-Andalus" schließt eine Lücke in der Präsenz orientalischer Poesie im deutschsprachigen Raum.

Von Christoph Leisten

​​"Das Wunder von al-Andalus" – dass diese Edition selbst ein kleines Wunder darstellt, sei gleich zu Beginn gesagt, gelingt ihrem Herausgeber doch eine Anthologie, die durch äußerste philologische Sorgfalt ebenso gekennzeichnet ist wie durch eine ansprechende Leserfreundlichkeit; eine Verbindung, die zumindest im deutschsprachigen Raum Seltenheitswert haben dürfte. Das eigentliche Wunder freilich offenbart die Sammlung selbst.

Die vorliegende Sammlung rekurriert auf die Zeit islamischer Präsenz auf der Iberischen Halbinsel. Beinahe ein Jahrtausend, nämlich von 711 bis 1614, währte jene Epoche, die, bei allem Wandel durch die Jahrhunderte, ein weitgehend friedliches Zusammenleben jüdischer, islamischer und christlicher Kultur demonstrierte und deshalb nicht ohne Grund "das Goldene Zeitalter" genannt worden ist.

Es ist einer der Vorzüge dieser Sammlung, dass sie den reichen Fundus der in al-Andalus entstandenen Poesie dem Vergessen entreißt. Allein dies ist weit mehr als ein literarhistorisches Verdienst.

In seiner Anthologie entfaltet Bossong die Zusammenhänge einer reichen Dichtungsepoche und lässt dabei sichtbar werden, wie intensiv arabische und hebräische Dichtung unter den Bedingungen von al-Andalus voneinander profitiert, sich gegenseitig beeinflusst und befruchtet haben, und wie sie gemeinsam schließlich europäischer Dichtung des späten Mittelalters und der Neuzeit entscheidend einen Weg bereiteten.

Diese außerordentliche Funktion war der Dichtkunst von al-Andalus möglich, weil sie, wie Georg Bossong nachweist, einem gemeinschaftlichen kulturellen Horizont entsprang. Im Vorwort der Ausgabe werden die Voraussetzungen dieser Dichtung ebenso detailliert wie verständlich erläutert.

Rückgriff auf die Tradition

Konstitutiv für diese Poesie ist ihr hohes Maß an Traditionsverbundenheit und Regelhaftigkeit. Erscheinen diese Grundkonstituenten dem modernen europäischen Leser auf den ersten Blick auch eher befremdlich, so verweisen sie doch in tieferer Betrachtung auf einen dritten Aspekt, der geradezu den Brückenschlag erlaubt zu den modernen und den postmodernen Literaturen:

Es ist dies der Aspekt der Intertextualität, welcher der Poesie von al-Andalus in besonderer Weise zueigen ist. Durch die Jahrhunderte hindurch beziehen sich die Dichter auf Werke der Tradition; indem sie deren Motive aufgreifen, variieren und modifizieren, erweitern sie zugleich die Möglichkeiten der Dichtung selbst.

Die Auswahl der insgesamt 41 Dichterinnen und Dichter macht ein bemerkenswertes Spektrum deutlich und führt nicht nur die Vielfalt dieser Poesie vor Augen, sondern auch ihre immense Bedeutung, die sie im arabischen Raum seit jeher genießt und auch darüber hinaus genießen sollte.

"Komm Christ! Die Herzen sind verbunden, / obwohl die Religion verschieden ist", lässt schon Al-Ramâdî im 11. Jahrhundert verlauten.

Neben derart programmatischen Versen tritt die poetische Ausgestaltung der Naturbetrachtung und die einer bemerkenswert offenherzigen Liebe, etwa im poetischen Diskurs zwischen Ibn Zaydûn und Prinzessin Wallâda bint al-Mustakfî, oder, noch intensiver, zwischen Abû Dja’far ibn Sa’îd und Hafsa bint al-Hâdjj al Rukûniyya.

Ibn Zaydûn ist in der Sammlung vertreten, König al-Mu’tamid ibn ’Abbâd, Ibn Quzmân und der große Ibn al-’Arabî, ebenso wie Shelomo ibn Gabiroll, Moshe ibn ’Ezra und Yehuda ha-Lewi auf hebräischer Seite.

Poesie des kulturellen Miteinanders

In Georg Bossongs gut lesbarer und dennoch werktreuer, zudem aufschlussreich kommentierter Übersetzung entfaltet die Anthologie ein poetisches Kompendium von Liebe und Vergänglichkeit.

Das thematische Spektrum verbindet die Gedichte mit der Poesie aller Zeiten, aber die Verbindlichkeit und die Entschiedenheit, in der sie die Themen gestalten, reicht weit über das dem europäischen Leser Vertraute hinaus.

"Al-Andalus, ihr Leute, ist ein Wunder: / voll Wasser, Schatten, Flüssen, hohen Bäumen. / Der Garten Eden ist bei euch allein; / nie würde andre Heimat ich mir wählen./ Drum fürchtet nicht die Hölle: niemand kommt / ins Höllenfeuer nach dem Paradies!", dichtete Ibn Khafâdja (1058-1139).

Dass eine Poesie des kulturellen Miteinanders vor Höllenqualen bewahren mag, ist eine der tiefen Lehren, die "Das Wunder von al-Andalus" uns Heutigen vermitteln kann.

Christoph Leisten

© Qantara.de 2005

Georg Bossong (Hg.): Das Wunder von al-Andalus. Die schönsten Gedichte aus dem Maurischen Spanien. Aus dem Arabischen und Hebräischen ins Deutsche übertragen und erläutert von Georg Bossong. München: C.H. Beck 2005

Qantara.de

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