Mythos und Poesie
Über den iranischen Dichter Hafis ist in den sieben Jahrhunderten seit seiner Geburt viel geschrieben worden. Was hat Sie inspiriert, ein Buch über den bekanntesten Dichter des Iran zu schreiben?
Nasser Kanani: Im westlichen Ausland ist, soweit ich weiß, bisher kein nennenswertes Buch über das Leben Hafis' und seine Lebensphilosophie geschrieben worden. Vielmehr hat man sich in diesem Teil der Welt damit begnügt, seine Gedichte zu übersetzen und zu interpretieren. Gerade deshalb hat mich die Frage beschäftigt, warum sich so viele westliche Dichter und Denker, Literaten und Künstler für die Poesie Hafis' interessiert haben. Mein Buch ist ein Versuch, Antworten auf diese Frage zu finden.
Was macht Hafis für Sie zum größten persischen Lyriker?
Kanani: Die iranische Kultur und die persische Sprache haben im vergangenen Jahrtausend viele großartige Dichter hervorgebracht. Viele davon erlangten Weltruhm, denken Sie etwa an Ferdosi, Khayyam, Rumi, Saadi und andere. Keiner von ihnen hat jedoch im persischen Sprachraum die Beliebtheit von Hafis erreicht. Die enorme Popularität dieses Dichters äußert sich auch darin, dass buchstäblich in jedem iranischen Haushalt mindestens ein Exemplar seines Divans existiert. Fast alle Iranerinnen und Iraner, unabhängig von ihrer Abkunft und ihrem Bildungsgrad, glauben fest daran, dass sie in seinem Divan eine Antwort oder einen Rat finden, wenn sie sich in einer schwierigen Situation befinden oder eine schwerwiegende Entscheidung treffen müssen. Dabei interpretieren sie die Weissagungen dieses Orakels durchaus in ihrem eigenen Sinn.
Hafis' Gedichte inspirierten auch die nachfolgende Generationen von Künstlern bis heute…
Kanani: Absolut. Generationen von persischen Dichterinnen und Dichtern haben davon geträumt (viele tun es heute noch), Ghasele à la Hafis zu kreieren; vergeblich! Auch Goethe sagte einmal: Und mag die ganze Welt versinken, Hafis, mit dir, mit dir allein will ich wetteifern! Auch iranische Musikerinnen und Musiker lassen sich von Hafis' Gedichten inspirieren. Seine Lyrik dient zudem seit eh und je als Inspirationsquelle für persische Kalligraphien. Rechtfertigt all dies nicht, Hafis den größten Lyriker der persischen Sprache zu nennen?
Ihr Buch mit den vielen Zitaten und Fußnoten liest sich wie eine Rezeptionsgeschichte vorwiegend deutscher Literaten und Orientalisten des 17. bis 19. Jahrhunderts. An welches Publikum dachten Sie, als Sie das Werk verfassten?
Kanani: Primär dachte ich an all jene Deutsche, die sich für die iranische Kultur und die persische Dichtkunst interessieren, und natürlich auch an meine Landsleute, die der deutschen Sprache mächtig sind. Es war meine Absicht, ein fundiertes und gut dokumentiertes Sachbuch zu schreiben. An einer einfachen Erzählung über Hafis war ich nicht interessiert. Lassen Sie mich bitte bei dieser Gelegenheit meinem liebenswürdigen Freund Prof. Dr. med. Alireza Ranjabar, dem Präsidenten der Akademie Iranischer Ärzte und Zahnärzte in Deutschland (AIA), meinen Dank aussprechen, ohne dessen finanzielle Unterstützung die Veröffentlichung dieses Buches problematisch gewesen wäre.
Es gibt auch einige deutschsprachige Lyriker, die von Hafis stark beeinflusst sind…
Kanani: In der Tat. Meine ursprüngliche Absicht war es, in einer umfassenden Abhandlung aufzuzeigen, welchen Einfluss die Poesie Hafis’, insbesondere die von ihm so geliebte Gedichtform des Ghasel, auf die deutsche Lyrik ausgeübt hat. Immerhin haben mehr als 100 deutschsprachige Dichterinnen und Dichter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert Ghasele im Stile Hafis‘ geschrieben. Dabei hielt ich es für angebracht, die Leserinnen und Leser in einem etwas längeren Vorwort mit dem Leben und Wirken dieses Dichters aus Schiras vertraut zu machen und so die Beliebtheit seiner Poesie im deutschsprachigen Raum zu begründen. Aber dieses als Einführung gedachte Vorwort nahm immer mehr an Umfang zu. So beschloss ich, es als ein selbstständiges Buch herauszugeben. Ich arbeite zurzeit an einer Abhandlung über die deutschsprachigen Dichterinnen und Dichter, die Ghasele wie Hafis geschrieben haben. Darin werde ich viele dieser "deutschen" Ghasele vorstellen.
Sie schreiben auch über die Zeit, in der Hafis seine kreative Phase hatte.
Kanani: Eine finstere Zeit, beherrscht von der Tyrannei der Despoten und dem Obskurantismus einer fanatischen Geistlichkeit. Es ist die Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet in einer der dunkelsten Perioden der Geschichte des Irans ein Dichter von Hafis' Format gelebt und gewirkt hat. Deshalb habe ich versucht, seine Lebensphilosophie zu ergründen, die es ihm ermöglichte, seine Integrität und seine Menschlichkeit zu wahren.
Wie finden Sie die deutschen Fassungen von Hafis' Divan?
Kanani: Ich habe bei der Wiedergabe der deutschen Übersetzungen seiner Gedichte hin und wieder darauf hingewiesen, dass einige von ihnen manches zu wünschen übrig ließen und kaum die wahren Gedanken Hafis’ reflektieren. Natürlich habe ich auch die möglichen Gründe dafür erwähnt: die sublime Sprache dieses rätselhaften Dichters, die Ambiguität seiner Poesie und natürlich auch die Eigenheiten der persischen Sprache.
Hafis hat die Liebe gepriesen wie kaum ein anderer. Dennoch widmen Sie sich kaum seinem Liebesleben. Wieso?
Kanani: Hafis liebte seine Frau, deren unendliche Güte er in einem seiner schönsten Ghasele gerühmt hat, und er litt über alle Maßen unter ihrem unerwarteten und frühzeitigen Tod. Die Liebe, die er in seinen Gedichten verherrlicht, ob weltlich oder himmlisch, besitzt eine andere Dimension als gemeinhin angenommen. Von dieser Liebe ist oft die Rede in meinem Buch. Ich muss gestehen, dass mir die Vorstellung zuwider ist, Hafis hätte wie ein Schürzenjäger ständig Frauen für erotische Beziehungen zu gewinnen gesucht.
Sie erwähnen in Ihrem Vorwort, dass Hafis sich dem Sufismus zugewandt hatte. Später gehen Sie auf die Aversionen ein, die Hafis hegte, nachdem er den Sufi-Orden verlassen hatte. Worauf sind die zurückzuführen?
Kanani: Es ist fragwürdig, ob Hafis tatsächlich jemals einem Sufi-Orden angehörte. Das rührt daher, dass wir im Persischen zwischen Aref (Gnostiker) und Sufi (Mystiker, Wanderderwisch) oder anders ausgedrückt zwischen Erfan (Gnostik) und Sufismus (Mystik) unterscheiden. Hafis war Gnostiker. Das ganze Leben dieses Ausnahmedichters ist umwoben von Legenden. Oft ist es nicht einfach, Dichtung und Wahrheit auseinanderzuhalten. Fakt ist aber, dass er die größte Verehrung dem von ihm selbst erfundenen Charakter Rend entgegenbrachte, der sich uneingeschränkt der Liebe und der Wahrheit verpflichtet fühlt. Für heuchlerische Frömmler und weltliche Sufis, denen er materielle Habgier und Massenverdummung vorwarf, empfand er tiefe Verachtung.
Man merkt dem Buch an, dass Sie ein großer Hafis-Fan sind. Welches Gedicht berührt Sie am stärksten?
Kanani: Für mich ist Hafis nichts anderes als ein Dichter, ein Poet pur! Ich bewundere die fröhliche Verwegenheit seines Geistes, liebe seine wunderschöne und unvergleichliche Sprache und ergötze mich an der Melodie seiner Poesie. Zu viele seiner Verse gehören zu meinen Lieblingsgedichten in der persischen Sprache, als dass ich an dieser Stelle das eine oder das andere nennen können.
Das Interview führte Yasmin Khalifa.
Nasser Kanani: "Hafis. Der größte Lyriker persischer Zunge", Verlag Königshausen & Neumann 2020, 282 Seiten, ISBN: 3826069501