Kampf um das Herz der Schiiten
Der einflussreiche Schiitenprediger und Politiker Muktada al-Sadr hat einmal mehr bewiesen, dass er seine Anhänger wie einen Lichtschalter aus- und einschalten kann. Nachdem sich seine Gefolgsleute Ende August 24 Stunden lang wilde Schusswechsel mit pro-iranischen Milizen und den offiziellen Sicherheitskräften mitten in der eigentlich schwer bewachten Grünen-Sicherheits-Zone in Bagdad geliefert hatten, rief Sadr vor einer Woche (29.08.) seine Anhänger auf, innerhalb einer Stunde die Gewalt zu beenden und sich zurückzuziehen.
In weniger als 60 Minuten räumten diese friedlich die Grüne Zone, den Ort der Regierung, des Parlaments, der UN-Büros und der meisten ausländischen Botschaften, den sie zuvor die ganze Nacht durch in ein Schlachtfeld verwandelt hatten. Mindestens 30 Menschen waren ums Leben gekommen. Auch in anderen schiitischen Landesteilen im Süden des Irak war es zwischen Sadr-Anhängern und pro-iranischen Milizen zu Auseinandersetzungen gekommen.
Es war Zusammenstöße, die sich seit Monaten angebahnt hatten. Begonnen hat es vor zehn Monaten bei den Parlamentswahlen. Die Partei Muqtada al-Sadrs hatte dabei die meisten Stimmen erhalten, aber dennoch nicht genug, um die irakische Politik im Alleingang bestimmen zu können und vor allem nicht, um jenseits der Konkurrenz anderer, pro-iranischer schiitischer Parteien zu regieren. Dazu muss man wissen, dass die schiitischen Parteien zusammen die absolute Mehrheit im Parlament bilden – und letztendlich die irakische Politik bestimmen.
Nachdem die Verhandlungen um eine neue Regierung ins Nichts geführt hatten und es keinen inner-schiitischen Kuhhandel gab, zog Sadr im August seine Abgeordneten ab, forderte eine Auflösung des Parlaments und Neuwahlen. Seitdem herrschte eine Pattsituation, die das ganze Land lähmte, bis Sadr seine Anhänger von der Leine ließ.
Sunniten und Kurden sind nur Zaungäste
Das Ganze ist eine rein inner-schiitische Auseinandersetzung. Sunniten und Kurden sind hier nur Zaungäste. Im Kern geht es darum, wer die Schiiten des Landes, die die Mehrheit der Bevölkerung stellen, politisch dominiert. Es ist ein Machtkampf zwischen pro-iranischen Parteien und Milizen auf der einen Seite und Sadr, der sich in letzter Zeit zunehmend vom Einfluss Teherans auf die Politik im Irak distanziert und sich als irakischer schiitischer Nationalist präsentiert.
Was zunächst relativ friedlich begann, als Sadrs Anhänger in den Präsidentenpalast eindrangen und im dortigen Swimmingpool ein Bad nahmen, eskalierte schnell zu einer wilden Schießerei in und vor der Grünen Zone zwischen den rivalisierenden schiitischen Gruppen. Ganz Irak hielt den Atem an, in der Befürchtung, das geschundene Land könnte erneut in einen Bürgerkrieg, diesmal einen inner-schiitischen, schlittern.
Muqtada Sadr und seine pro-iranischen Rivalen spielten mit dem Feuer. Auch wenn es ihnen am Ende wahrscheinlich nur darum ging, sich mit Waffengewalt an den Verhandlungstisch zu schießen: Sie traten eine gefährliche Dynamik los, die jederzeit völlig aus Kontrolle hätte geraten können.
Sadr setzte seine Lichtschalter-Politik ein, wie er es so oft zuvor getan hatte, als er seine Anhänger zur Machtdemonstration aufrief, das Parlament zu besetzen, um sie kurz darauf wieder zurückzupfeifen. Nur diesmal eskalierten die Sadr-Anhänger diese bewährte Methode einen Zacken weiter, und tauchten mit Waffen auf. Damit zeigten sie den rivalisierenden pro-iranischen Milizen, dass sie auch fähig sind, militärisch auf Iraks Straßen Flagge zu zeigen. Sie hofften damit, ihre Verhandlungsmasse zu erhöhen.
Die zentrale Rolle Großayatollah Al-Sistanis
Nun hat Sadr die Seinen wieder an die Leine genommen. Jetzt wird er, in dieser erneuten zynischen Episode irakischer Politik, warten, was ihm angeboten wird.
Unterdessen wird im Irak die Frage debattiert, wer oder was Sadr bewogen hatte, seine Leute auf der Straße zurückzupfeifen. Vieles deutet daraufhin, dass Großayatollah Al-Sistani hier hinter den Kulissen eine Rolle gespielt hat. Die Nachrichtenagentur Reuters hatte dazu 20 hohe Beamte in der irakischen Regierung, in der Sadr-Bewegung und unter deren Rivalen, den pro-iranischen Parteien, interviewt, die unter Wahrung ihrer Anonymität berichteten, dass es eine Intervention Al-Sistanis war, die Sadr dazu bewog, seine Aktion zu beenden.
Der einflussreichste schiitische Geistliche im Irak soll Sadr gewarnt haben, er werde sich öffentlich gegen ihn stellen, sollten die Auseinandersetzungen fortdauern. Drei Quellen aus dem direkten Umfeld Al-Sistanis wollten nicht bestätigen, dass es eine direkte Botschaft von Sistani gab. Sie erklärten aber, dass es für Sadr klar war, dass Al-Sistani dem Ganzen nicht lange zusehen würde. Andere Quellen weisen auch daraufhin, dass sich die schiitische Hisbollah im Libanon und deren Chef Hassan Nasrallah als Vermittler zwischen Sadr und den pro-iranischen Parteien eingeschaltet hätten.
Wie auch immer. Das Grundproblem bleibt: Die Ära des relativen schiitischen Konsenses im Irak, vor allem im Vergleich zu den politischen Gruppen der Sunniten und Kurden, ist vorbei. Es ist auch schwer vorstellbar, dass sich die schiitischen Gräben wieder leicht zuschütten lassen. Die Frage, wer die Schiiten im Irak politisch dominiert, bleibt weiterhin ungelöst und damit auch indirekt die Frage, wie viel Einfluss der benachbarte Iran auf das Land ausübt. Denn auch der hat in den letzten Wochen mit dem Feuer gespielt.
Wer hat die geistliche Führung?
Denn die inner-schiitische Eskalation im Irak hat auch einen spirituellen Hintergrund, bei dem das Regime in Teheran seine Finger im Spiel hatte. Unmittelbar bevor Sadr seine Leute auf die Straße schickte, hatte der wichtigste geistliche Mentor Sadrs, Ayatollah Kadhim Al-Haeri, der jahrelang im Iran lebte, seinen Rücktritt aus Altersgründen bekannt gegeben. Ein ungewöhnlicher Schritt in der 1300-jährigen Geschichte des schiitischen Islam, etwa so ungewöhnlich, wie ein Rücktritt des Papstes in Rom.
Merkwürdig war dabei ebenfalls, dass Al-Haeri, eigentlich bekannt für seine Distanz zum Regime in Teheran, bei seinem Rücktritt seine Loyalität zum iranischen Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei verkündet hatte und seine geistlichen Anhänger, darunter auch die Gefolgsleute Sadrs aufrief, es ihm gleichzutun. Sadr twitterte daraufhin, er glaube nicht, dass Al-Haeri diesen Schritt aus freien Stücken unternommen habe und implizierte damit, das sei auf Druck aus Teheran geschehen. Für Sadr handelte es sich um einen Versuch der iranischen Regierung, auf diesem Weg seine Anhänger zu spalten.
Diese Rücktritterklärung hat nicht nur Auswirkungen auf die politische, sondern auch auf die geistliche schiitische Szene im Irak. Es ist auch ein Kampf darum, wen die Schiiten im Irak als Ort des geistlichen Oberhaupts anerkennen, das geistliche Zentrum in Qom im Iran oder in Najaf im Irak. Eine Frage, die zunehmenden Explosionsstoff enthält, weil die Nachfrage des 92-jährigen Großayatollah Al-Sistani völlig ungeklärt ist. Sowohl politisch als auch geistlich droht den Schiiten im Irak eine zunehmende Spaltung, die in den nächsten Monaten für viel Unruhe sorgen könnte.
Unterdessen ging letzten Freitag (02.09.) die andere Seite des Irak auf die Straße. Verärgert über die monatelange politische Lähmung ihres Landes und über die Gewaltausbrüche Ende letzten Monats, versammelten sich vor alle junge Iraker aller Konfessionen zu einem Protest im Westen Bagdads. Bewusst nur irakische Nationalflaggen schwenkend, forderten sie eine völlige Umwälzung des politischen Systems und ein Ende konfessionell dominierter Politik im Irak.
Ihr Protest ist eine Erinnerung daran, dass ein großer Teil der Bevölkerung, trotz des Ölreichtums des Landes in Armut lebt und dass mehr als ein Drittel der Irakerinnen und Iraker unter 30 Jahre arbeitslos sind. Diese sozial explosive Lage wird bleiben, solange sich das Land in der Geiselhaft konfessioneller Politik befindet, einer Politik schiitischer Parteien und Milizen und deren Ringen um Macht und Einfluss.
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