Die islamische Demokratie
Unter den Befürwortern einer islamischen Demokratie verdient eine neue, locker organisierte Bewegung Beachtung, die sich – in Abgrenzung von einem militanten Islamismus – als "Neue Mitte" versteht und die Grundsätze "guter Regierungsführung" mit der Wahrung kultureller Authentizität verbinden will.
Demokratie, Freiheit, das Ende von Korruption, Willkür und Gewalt – danach rufen die Demonstranten von Marokko bis Iran, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie darunter etwas anderes verstehen als der Rest der Welt, einschließlich der westlichen, nämlich: Rechtsstaatlichkeit, gute Regierungsführung und die Achtung der Menschenrechte.
Offenkundig sehen sie durch diese Werte und Institutionen ihre kulturelle Identität nicht gefährdet, gerade weil sie nicht exklusiv westlich sind, sondern universell gültig. Gläubige, praktizierende Muslime, die im eigenen Land Demokratie fordern, müssten unsere Islamkritiker eigentlich zum Nachdenken bringen. Es ist recht still in diesem Lager.
Nun muss man nicht darüber streiten, ob Muslime in einer Demokratie leben und einen demokratischen Rechtsstaat bejahen können. Die Antwort liegt bereits vor. Ob hingegen eine explizit islamisch fundierte Demokratie denkbar ist und wie sie gegebenenfalls aussehen könnte, ist nicht ganz so offenkundig.
Im Schatten islamistischer Hegemonie
Die Diskussion stand bisher im Schatten islamistischer Hegemonie und westlicher Dominanz. Mit ihren Thesen und Begriffen haben die Islamisten die öffentliche Auseinandersetzung um Identität, Staat und Recht besetzt, in den muslimischen Gesellschaften ebenso wie im Westen. Die islamistische These, der Islam sei "Religion und Staat" und erfordere daher zwingend die Anwendung der Scharia, reflektiert zwar nicht die historische Wirklichkeit.
Als Gegenthese zu säkularen Ideen und autoritären Regimen aber war und ist sie enorm wirksam. Nun fällt das repressive Potenzial dieser These unmittelbar ins Auge: Iran illustriert es tagtäglich. Weniger evident ist das Moment der politischen "Ermächtigung", das Aktivisten aus ihr schöpfen, indem sie aus dem Islam selbst ein Anrecht auf politische Partizipation und Mitsprache ableiten.
Das hat sie im Kampf gegen koloniale Herrschaft ebenso gestärkt wie in der Opposition gegen ihre autoritären Regime. So unterschiedlich islamische Ordnungen heute formuliert werden, eines haben sie gemeinsam: Sie leiten die Grundlagen von Politik und Recht aus dem Koran und der Prophetentradition (Sunna) ab.
Das geht, auch wenn viele das Gegenteil behaupten, nur über Interpretation. Nach dem Verhältnis von Islam, Menschenrechten und Demokratie zu fragen, heißt, Koran und Sunna mit heutigen Augen zu lesen: Der Koran enthält zwar Hinweise auf ein "rechtes" Handeln und die Prinzipien einer "gerechten" Ordnung, aber er ist keine Verfassung, und er schreibt den Muslimen keine bestimmte Staatsform vor.
Die arabische "Neue Mitte"
Unter den Befürwortern einer islamischen Demokratie verdient eine neue, locker organisierte Bewegung Beachtung, die sich – in Abgrenzung von einem militanten Islamismus – als "Neue Mitte" versteht und die Grundsätze "guter Regierungsführung" mit der Wahrung kultureller Authentizität verbinden will. Ihre Vertreter finden sich in Ägypten ebenso wie in Saudi-Arabien, Tunesien oder Marokko.
Nach ihrer Überzeugung legen Koran und Sunna lediglich einige allgemeine Grundsätze fest: das Beratungsprinzip schura, das politische Mitsprache, wenn nicht demokratische Teilhabe religiös verankert; die Verantwortlichkeit der Regierenden vor Gott und dem Volk, die unter anderem einen geregelten Machtwechsel garantiert, sowie die Unabhängigkeit der Justiz, die auf die Wahrung der Verfassung verpflichtet ist.
Der Rest ist Verhandlungssache und den Bedingungen von Ort und Zeit anzupassen. Auch die Vertreter der "Neuen Mitte" sehen die Scharia als Fundament muslimischen Lebens und Maßstab für die Legitimität der gesellschaftlich-politischen Ordnung. Sie gilt ihnen im Kern als Gottesrecht, dem Zugriff weltlicher Autoritäten weitgehend entzogen.
So verstanden, ist der auf die Scharia gegründete Staat ein Rechtsstaat. Der Charakter der islamischen Ordnung steht und fällt daher mit dem Verständnis der Scharia, auf dem er gründet.
Das größte Potenzial liegt sicher bei denjenigen, die auf einige "allgemeine Grundsätze" der Scharia abheben und diese mit bestimmten Grundwerten identifizieren – Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Verantwortung –, die längst Eingang in das islamische Repertoire gefunden haben. Hier sprechen nicht nur einzelne Intellektuelle, sondern islamische Religions- und Rechtsgelehrte sowie Vertreter der staatlichen Justiz, die durchaus dem Establishment zuzurechnen sind.
Wert und Würde des Individuums lassen sich auf diese Weise koranisch begründen. Das islamische Recht geht ohnehin vom individuellen Rechtssubjekt aus, das vor Gott und den Menschen Verantwortung trägt. Einen Pluralismus der Interessen und Meinungen hat es in der islamischen Welt stets gegeben, gerade in theologischen und rechtlichen Fragen.
Im "Rahmen des Islam" kann die Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gewährt werden; auch ein Mehrparteiensystem lässt sich islamisch begründen.
Bewegung in der Frage der Gleichberechtigung
Problematisch bleibt die Idee der bürgerlichen Gleichheit und Freiheit, zumindest wenn hier die westeuropäische Gesellschaft des frühen 21. Jahrhunderts den Maßstab gibt. Frauen und Nichtmuslime sind nach herkömmlichem Scharia-Verständnis den männlichen Muslimen nicht in allen Bereichen gleichgestellt.
In dieser Frage ist allerdings einiges in Bewegung: Politische Rechte wie das aktive und passive Wahlrecht aller Bürger unabhängig von Religionszugehörigkeit und Geschlecht werden leichter zugestanden als die völlige Gleichstellung in zivilrechtlichen Dingen. Nicht anders war es ja lange genug in westlichen Gesellschaften.
Eng bleiben die Grenzen im Bereich der religiösen, künstlerischen, akademischen und sexuellen Freiheit: Moral wird in islamischen Kreisen ganz groß geschrieben, und ihr Begriff von "Korruption" beschränkt sich nicht auf das Feld der Ökonomie. Daher ist die Geschlechterordnung im gesellschaftlichen Diskurs zentral – und nicht nur unter Islamisten.
In islamischen Verfassungsmodellen, wie wir sie etwa von den ägyptischen Muslimbrüdern kennen, verbinden sich moderne Formen politischer Artikulation und Organisation – Parteien, Verbände, Gewerkschaften, moderne Medien, Wahlen, Parlamente und Verfassungsgerichte – mit einer normativen Fundierung und funktionalen Bestimmung, die als Gegenentwurf zum autoritären Unrechtsstaat dienen, in dessen Rahmen sie entwickelt wurden. Sie skizzieren eine konstitutionelle Präsidialrepublik, die auf der Scharia als Fundament von Moral und Recht basiert.
Grundprinzipien guter Regierungsführung – Rechtsstaatlichkeit, Verantwortung und Rechenschaftspflicht, Konsultation und Partizipation – werden "im Rahmen des Islam" und "der Scharia" bejaht.
Entscheidendes hängt davon ab, wie und durch wen dieser Rahmen definiert wird und wer über seine Einhaltung wacht. Nicht zu übersehen ist das starke Gewicht des Staates als Ordnungskraft: Der islamische Staat, so wie er hier entworfen wird, ist ein Staat mit einer Mission.
Im Innern soll er Recht und Gerechtigkeit garantieren, gerade im sozialen Bereich, und nach außen die Interessen des Islams und der umma, der muslimischen Gemeinschaft, verteidigen, die weitgehend mit den Interessen des jeweiligen Einzelstaats gleichgesetzt werden. Moralische Kategorien – etwa die Sozialbindung des Eigentums – spielen eine auffällige Rolle, immer stärker wird auch die Bedeutung von Institutionen bei der Wahrung individueller Rechte und kollektiver Interessen anerkannt.
Auch den Vertretern der "Neuen Mitte" geht es vorrangig um politische Mitbestimmung, nicht um die Ausweitung kultureller, intellektueller und künstlerischer Freiräume. Auf der Grundlage der Scharia, so wird man schließen, soll der demokratische Rechtsstaat erbaut werden, nicht die liberale Gesellschaft.
Gudrun Krämer
© DIE ZEIT 2011
Die Islam- und Politikwissenschaftlerin und Historikerin Gudrun Krämer ist Leiterin des Instituts für Islamwissenschaften an der Freien Universität Berlin und Direktorin der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies. Zu ihren Forschungsgebieten gehören Religion, Recht, Politik und Gesellschaft in der islamischen Moderne.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de