„Politik wird vom Volk auf der Straße gemacht“
„Ich habe ein Attest, ich darf das“, sagt der junge Mann mit kinnlangem Haar und Bart verschmitzt, als er sich während der Lesung seines neuen Buchs Junge Verlierer in Berlin eine Zigarette anzündet. Das Publikum lacht. Das gefällt ihm. In seinem Kapuzenpulli sitzt er da, darüber eine schwarze Lederjacke – Kleidung, die zum Markenzeichen des rebellischen Jungautors geworden ist.
Junge Verlierer, das jüngst auf Deutsch erschienen ist, ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, die aus der Sicht von Jugendlichen geschrieben sind und vom Erwachsenwerden handeln. Da gibt es den Jungen, der nach dem Tod seiner Eltern bei der Großmutter aufwächst, die nur durch eine tägliche Dosis von Pillen überleben kann. Den 14-Jährigen, der sich hoffnungslos in die Freundin seines älteren Bruders verliebt hat und Nurettin, der zwölf Jahre alt ist und den Tod seines Bruders, der als Soldat gefallen ist, rächen will. Junge Männer, die auf die eine oder andere Art einen Verlust erlitten haben und deren Frust und Trauer sich in verzweifelten Aktionen ausdrückt.
Beliebter Kritiker
In Junge Verlierer gibt Serbes Jugendlichen, deren Probleme in der Welt der Erwachsenen häufig untergehen, eine Stimme. Als Stimme des Volkes gilt er selbst spätestens seit der Gezi-Bewegung im Sommer 2013. Da war er nicht nur auf der Straße bei den Protesten mit dabei. Häufig trat er als Gast in Talkshows abseits der Mainstream-Medien auf und machte aus seiner Kritik am gewaltsamen Vorgehen der Polizei und der AKP-Regierung keinen Hehl.
Dafür forderte die Istanbuler Staatsanwaltschaft zwölf Jahre Haft, doch die Klage wurde wieder fallen gelassen. Eingeschüchtert hat ihn das nicht. „Diese Regierung hat schon längst ihre Legitimation verloren“, so seine Meinung. „Wenn es euch nur ums Geld geht, dann nehmt doch das ganze Geld aus der Staatskasse, aber verzieht euch endlich“, sagt er und meint damit jene AKP-Politiker – darunter auch Ministerpräsident Tayyip Erdoğan – die sich durch angebliche Aufzeichnungen von Telefongesprächen, die in an die Öffentlichkeit gelangten, mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, sich privat an Schwarzgeldern bereichert zu haben.
Dass sich die Unzufriedenheit an der Regierung in der Gezi-Bewegung entlud, erstaunt ihn nicht. „Über Jahre hatte sich so Vieles in der Gesellschaft angestaut“. Für ihn ist die Sache ganz klar: „Wenn du einen Mann, der im Monat umgerechnet 400 Euro verdient, mit einem Besen jagst, darfst du dich nicht wundern, wenn dieser Mann eines Tages mit einer Schaufel auf dich zukommt.“
Für ihn haben die Ereignisse im Sommer 2013 etwas ins Rollen gebracht, das noch längst nicht abgeschlossen ist. „Politik entscheidet sich nicht nur bei Wahlen. Der eigentliche Akteur bei der Politik ist das Volk und der Ort, an dem Politik gemacht wird, ist die Straße. Das stammt von Hannah Arendt und das haben wir in der Türkei nun gelernt. Dass es den Gezi-Park heute noch gibt, haben wir nicht einer Entscheidung eines Parlaments oder eines Gerichts zu verdanken. Das hat das Volk entschieden.“ Serbes wünscht sich nur, dass die Situation nicht weiter eskaliert.
Literarische Sensation
Geschrieben hat Serbes eigentlich schon immer. Sein Vater war Arbeiter, die Mutter Beamtin. Beide wollten, dass ihr Sohn etwas macht, wovon er leben kann. So versuchte er sich in der Hotelbranche in Antalya. Er merkte, dass das nicht sein Ding ist, setzte alles auf eine Karte und hatte Erfolg: Sein erster Roman über den mürrischen, kettenrauchenden, fluchenden und trinkenden Polizeikommissar in der Mordkommission in Ankara, Behzat ç., schlug in der Literaturszene ein wie eine Bombe. Seine Kritik am Polizeiapparat lässt Serbes subtil und ironisch in die Geschichte um den Protagonisten – dem Prototyp eines Antihelden – und die authentisch gezeichneten Charaktere einfließen.
Der Roman wurde Vorlage für eine der beliebtesten TV-Serien in der Türkei, die immer wieder von der Aufsichtsbehörde für Radio und Fernsehen zensiert wurde, und ist auch auf Deutsch erschienen. 2013 wurde er für das Kino verfilmt.
„Ich überlege nicht, worüber ich schreiben könnte. Ich suche nicht nach Themen. Vielmehr ist es so, dass die Themen mich finden“, beschreibt Serbes sein Schaffen. Manchmal, erzählt er, fragen ihn junge Leute, wie man schreibt, wenn man doch selbst nicht so viel erlebt. Seine Antwort: „Ich denke, man muss nicht unbedingt etwas erleben, damit man schreiben kann. Leben und Schreiben sind zwei unterschiedlichen Dinge.“ Er selbst betrachtet sich nicht als „intellektuellen Schriftsteller“, wie er sagt. Zwar lese er gerne gute Romane, doch vor allem beobachte er viel. An das Schreiben, so sagt er, müsse man glauben, wie an eine Religion. Das habe schon Mario Vargas Llosa gesagt.
„Erfolgreich, halb erfolgreich, gegammelt“
Wenn er einen Abgabetermin hat, verlässt er die Millionenmetropole Istanbul und seine Wohnung in Beşiktaş, in die ständig Freunde ein- und ausgehen. Dann zieht er sich zurück nach Yalova. Hier wohnt seine Mutter und hier steht auf seinem Schreibtisch ein Kalender, darein dokumentiert er seine Produktivität. An manchen Tage trägt er ein R ein. Das bedeutet: erfolgreich an einem Roman geschrieben. An manchen steht HR. Das heißt, halb erfolgreich an einem Roman gearbeitet. Und manchmal steht da ein G. Das heißt dann: gegammelt.
An Tagen, an denen es gut läuft, sagt er, arbeitet er bis zu 16 Stunden am Tag. „Da schreibe ich dann zehn, zwanzig Seiten, aber nur eine Seite ist wirklich brauchbar. Manchmal aber auch nur ein Satz. Dann denke ich: Ich habe einen brauchbaren Satz produziert. Das ist schon gut.“
Mittlerweile haben die drei ins Deutsche übersetzten Bücher von Serbes in Deutschland einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt und werden an zwei Berliner Gymnasien gelesen. Die Schüler der Mittelstufe zeigten sich begeistert von dem frischen Ton, der auch der kecken Übersetzung von Oliver Kontny – „meiner deutschen Stimme“, wie Serbes sagt – geschuldet ist. „Jetzt befinde ich mich ein einer Reihe mit Goethe, Hesse, Günther Grass und Heinrich Böll“, witzelt Serbes. „Noch fünf Jahre“, sagt er durch den Rauch seiner Zigarette mit zusammengekniffenen Augen, „dann habe ich sie vertrieben“.
Ceyda Nurtsch
© Qantara.de 2014
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
Emrah Serbes wurde 1981 in Yalova geboren und studierte in Ankara Theaterwissenschaften. Von Emrah Serbes erschienen auf Deutsch im Binooki-Verlag: „Behzat Ç. – Jede Berührung hinterlässt eine Spur“ (2012), „Behzat Ç. – Verschütt gegangen“ (2012) sowie „Junge Verlierer“ (2014).