Experiment Demokratie
In Sanaa stinkt es bestialisch. Ob vor der deutschen Botschaft, dem Außenministerium, hinter den Hotels oder in der von der Unesco als Weltkulturerbe gelisteten Altstadt: überall in der jemenitischen Hauptstadt liegen Berge von Müll mit verwesenden Abfällen.
Einzige Verwerter sind die unzähligen Ziegen, die sich über den Unrat hermachen. Die Müllabfuhr streikt seit über zwei Wochen. "Das ist Demokratie", bemerkt Hayel Abdulhak Besher mit einem ironischen Unterton. "Die Arbeiter wollen mehr Lohn."
Genauso wie die der staatlichen Ölfirma in Masila, dem größten Ölfeld des Landes. Mit einer Produktion von 260.000 Tonnen täglich, gehört der Jemen sowieso nur zu den kleinen Ölproduzenten im Mittleren Osten. Doch auch aus dem zweiten Ölfeld in der Provinz Maarib fließt seit November kein Tropfen mehr, nachdem seit Ausbruch der Revolution vor einem Jahr mehrere Anschläge auf die Pipeline verübt wurden.
Ökonomisches Brachland Jemen
Jemens Ölproduktion, Haupteinnahmequelle des Landes, steht derzeit still. Hayel Abdulhak Besher leert seine Medikamentendose und übt sich in Optimismus. "Nach den Wahlen wird es besser." Besher ist der drittreichste Mann im Jemen. Ihm gehören Hotels, Baufirmen, Handynetze und Ölförderlizenzen. Sollte tatsächlich eine Demokratie im Jemen entstehen und damit eine Umverteilung der Reichtümer stattfinden, hat der Herr im feinen beigefarbenen Anzug viel zu verlieren.
Doch soweit ist es noch lange nicht, und viele der 24 Millionen Bewohner des unteren Teils der Arabischen Halbinsel stellen sich dieser Tage die Frage, ob es je dazu kommen wird. Geschäftsmann Hayel jedenfalls ist überzeugt, dass alle wählen gehen werden, um dem Interimspräsidenten Abed Rabbo Mansur Hadi den Rücken zu stärken.
"Die haben den Karren so richtig in den Dreck gefahren", kommentiert Nabil Almakaleh die derzeitige Situation und meint damit nicht die stinkenden Müllberge um ihn herum, sondern Präsident Ali Abdullah Saleh und seine Anhänger. Der 43-Jährige leitet diverse Sozialprojekte mit Finanzierung der deutschen KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) und muss täglich miterleben, wie sein Land mehr und mehr verfällt.
Seine ausländischen Kollegen haben allesamt den Jemen verlassen. Außer einigen wenigen Diplomaten der Botschaft befinden sich derzeit keine Deutschen im Land, obwohl die Bundesrepublik seit Jahren der größte Entwicklungshilfegeber Jemens ist. "Saleh hätte 2006 abtreten sollen, da war es noch nicht zu spät."
Damals fanden die letzten Präsidentschaftswahlen unter Protesten der Oppositionsparteien statt. Doch der Despot klammerte sich vehement an die Macht wie fast alle orientalischen Herrscher der Region.
Zwei Jahre später brachte er die Möglichkeit einer dritten, von der Verfassung nicht erlaubten Amtszeit in die Diskussion oder dass die Macht an seinen Sohn übergeben werden sollte. Seine Gegnerschaft wuchs von da an drastisch an. Wann immer Nabil fortan eine Zeitung mit dem Foto des 69-Jährigen auf der Titelseite in die Hand bekam, durchkreuzte er das Gesicht mit einem Stift. "So wütend war ich auf ihn!"
"Es kann nur besser werden"
Als Saleh Ende Januar endlich den Jemen in Richtung USA verließ, war er 33 Jahre im Amt, der am längsten herrschende Regent der Region. Zurück bleiben fast 1.000 tote Demonstranten, viele Verletzte, ein zerrissenes Land und eine seit Monaten von heftigen Straßenkämpfen gezeichnete Hauptstadt Sanaa. Trotzdem werde er wählen gehen, begründet Nabil seinen Urnengang, auch wenn die alte Garde dadurch nicht abgesetzt werden kann und das Votum lediglich eine zweijährige Übergangsphase einleitet. "Es kann doch nur besser werden."
Als Ägyptens Präsident Husni Mubarak am 11. Februar 2011 aufgrund der Massenproteste zurücktreten musste, sprang der Funke des arabischen Frühlings auch auf den Jemen als drittes Land in der Kette über. Die Jugend stürmte zum Tahrir-Platz in Sanaa. Doch dort erlebte sie eine Überraschung. Der Platz am Rande der Altstadt war bereits besetzt worden. Anhänger von Präsident Saleh waren dabei, ihre Zelte aufzubauen.
Daraufhin zogen die jungen Leute weiter zum Paradeplatz in der Nähe des Präsidentenpalastes. Dort stand die Polizei und knüppelte die Regimegegner nieder. Schließlich wurde der Universitätsplatz zur Protestmeile. Tawakul Karmans Zelt war eines der ersten, die am "Sahet Al-Taghier" – dem Platz der Veränderung – wie er inzwischen genannt wird, aufgeschlagen wurde.
Seitdem die Aktivistin den Friedensnobelpreis erhalten hat, steht am Eingang ein ordentlicher Schreibtisch. Ein Generator liefert Strom. Es gibt Steckdosen und einen Fernseher. Zwei Sekretäre wimmeln die Besucher ab. Tawakul selbst ist erst einmal abgetaucht, äußert sich vorläufig nur über ihre Facebook-Adresse.
In der Woche vor den Wahlen hat sie gleich zwei ernstzunehmende Morddrohungen erhalten. Die radikal-islamische Organisation "Ansar Al-Sharia" soll dafür verantwortlich sein, weil sie sich angeblich zu weit vom Islam entfernt habe. Ursprünglich gehörte Karman der islamischen Oppositionspartei "Islah" an, kehrte sich aber von ihr ab, als die "Islah" sich mit der Regierungspartei von Präsident Saleh einigte und in eine Koalition einwilligte.
"Tawakul Karman ist jetzt mit uns", sagen Ismael und Safaa, die ebenfalls von Anfang an dabei sind und zur größten Protestgruppe namens "Shabab", die Jugend, gehören. Ismael studiert tagsüber an der naheliegenden Universität und verbringt die Nächte im Zelt. Bei Safaa ist es umgekehrt. Sie ist tagsüber am Platz der Veränderung und muss bei Dunkelheit nach Hause.
Fronten quer durch alle politischen Lager
In Jemen ist die Lage nach Ausbruch der Revolution viel komplizierter als in Tunesien und Ägypten, wo alles begann. Während in den beiden afrikanischen Ländern sich das Volk zusammen mit der Armee gegen den Präsidenten verbündete, verlaufen die Fronten im Jemen kreuz und quer.
Zwar ist in Ägypten die Allianz zwischen Militär und Protestbewegung inzwischen aufgekündigt, doch im Jemen hat sie nie existiert. Zunächst versuchten die im Parlament bereits vertretenen Oppositionsparteien sich die Situation zunutze zu machen. Sie schlugen ihrerseits Zelte am Demonstrationsplatz auf. Inzwischen sind alle Straßen, die vom "Sahet Al-Taghier" abgehen, gesperrt und mit Zelten belegt. Anliegende Geschäfte mussten größtenteils schließen, Firmen gingen pleite.
Nach dem ersten Blutbad Mitte März zwischen Regierungstruppen und den Zeltbewohnern, bot sich General Ali Mohsin mit seiner ersten Brigade der Armee zum Schutz der Protestbewegung an. Ein enger Freund und langjähriger Weggefährte Salehs wandte sich vom Präsidenten ab. Der Machtkampf begann. Armeeeinheit kämpfte gegen Armeeeinheit. Das Konfliktszenario erinnerte anfangs an das libysche. Als dann der Führer des mächtigen Ahmar-Stamms sich auch noch einmischte, war Sanaa fünf Monate lang dreigeteilt. Noch heute sind Blutflecken an den mit Einschusslöchern übersäten Häusern zu sehen.
Nun soll es Abed Rabbo Mansur Hadi, langjähriger Vize-Präsident von Saleh, richten. "Wenn 20 Prozent wählen gehen, wird Hadi gewinnen. Wenn nur fünf Prozent wählen gehen, wird er auch gewinnen." Mohy Al-Dhabbi spricht von einer Gewinnerwahl. Da es nur einen Kandidaten gibt, kann es keine Verlierer geben. Trotzdem hätten die Übergangsregierung und die Amerikaner, "die die Show organisieren", sich auf das Wort "vorgezogene Präsidentschaftswahlen" geeinigt, auch wenn es eigentlich mehr ein Referendum sei.
Dhabbi ist seit seiner Rückkehr als Botschafter in der Bundesrepublik stellvertretender Außenminister in Sanaa und steht voll hinter dem Plan, einen Demokratisierungsprozess mit der Wahl des Interimspräsidenten einzuleiten. "Eine gemischte Übergangsregierung aus Opposition und Regierungspartei gibt es ja schon", meint er optimistisch. "Das haben wir den Ägyptern voraus."
Birgit Svensson
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de