Die Gelbwesten von Khartum
Seit einem Monat finden sich nahezu täglich Lehrerinnen, Ärzte, Arbeitslose, aufgebrachte Mütter und frustrierte Studenten auf den Straßen des Bürgerkriegslandes Sudans ein, um gegen die Politik ihrer Regierung zu demonstrieren. Zehntausende waren es seit dem Beginn am 19. Dezember, 42 von ihnen sind dabei ums Leben gekommen.
Was als Protest gegen die Wirtschaftspolitik, die Erhöhung des Brotpreises und die Verteuerung von Benzin begann, hat sich zum Aufruf zum Sturz des Präsidenten Omar al-Bashir entwickelt. Bashir ist seit einem Militärputsch 1989 an der Macht und seit 1993 Staatspräsident des Sudan.
Lange Zeit galt er als kleinster gemeinsamer Nenner zwischen der politischen Elite und dem Militär. Auch der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshof gegen den Präsidenten sowie die US-amerikanischen Sanktionen gegen das Land führten dazu, dass sich die Reihen hinter ihm schlossen.
Starke Außenpolitik – prekäre Situation im Innern
Immerhin werden dem Präsidenten und seiner Regierung etliche außenpolitische Achtungserfolge bescheinigt: Die Normalisierung vom Pariastaat zum Partner des Westens ist in den letzten Jahren fortgeschritten. So gibt es eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit der CIA beim Antiterrorkampf, und auch die EU versteht den Sudan als wichtigen Partner, weil das Land als Migrationsknotenpunkt für das gesamte Horn von Afrika gilt.
Die Situation im Innern des Sudan hingegen ist prekär. Insbesondere die katastrophale wirtschaftliche Lage spricht gegen ein "Weiter so". Nach dem kurzen Ölrausch in den frühen Zweitausenderjahren ist nach der Abspaltung des Südsudan und dem Verlust der Ölfördergebiete keine nachhaltige Diversifizierung der Wirtschaft gelungen, die Korruption nahm zu und notwendige Investitionen in die Infrastruktur blieben aus. Das Wirtschaftswachstum 2018 war negativ (-2,3 Prozent), und auch für 2019 stehen die Prognosen schlecht, Devisen sind kaum vorhanden.
Auch haben sich die Erwartungen, die durch die Aufhebung der US-Wirtschaftssanktionen geschürt wurden, bislang nicht erfüllt. Dazu kommen klimatische Rahmenbedingungen, die sich negativ auf die Nahrungssicherheit der Bevölkerung auswirken.
Womit ist zu rechnen?
Ähnlich wie derzeit in Frankreich steht auch im Sudan nicht weniger auf dem Spiel als die Zukunft der Gesellschaft und der politischen Kultur des Landes. Auch im Sudan ist es ein Querschnitt aller Bevölkerungsgruppen – inklusive der Mitte –, der auf die Straße geht. Anders als in Frankreich jedoch sind die Reaktionen brutaler, die Folgen gravierender.
Wie sich die Situation in den folgenden Wochen und Monaten entwickelt, hängt maßgeblich davon ab, inwieweit es der Regierung gelingt, die Lebensgrundlagen der Bevölkerung zu verbessern und glaubhaft politische Forderungen umzusetzen. Auch die Frage, wie viel Rückhalt der Präsident noch hat, wird entscheidend sein. Drei Szenarien sind denkbar.
Erstens: Bashir setzt auf Härte und kann sich dabei wie bisher auf die Loyalität großer Teile der Armee verlassen. Die urbane Mittelschicht spaltet sich in Regierungstreue und politische Opposition, die jüngere urbane Bevölkerung, die keinem Klientelnetzwerk angehört, verfällt entweder in Lethargie oder schließt sich der – bewaffneten oder unbewaffneten – Opposition an. In der Folge kommt zu den beiden bestehenden Bürgerkriegsfronten Darfur und Südkordofan eine urbane Front hinzu. Die Wut der Bevölkerung wird sich solange gegen die Person des Präsidenten richten, solange es lediglich symbolische Verbesserungen gibt. Nur schnelle, sichtbare wirtschaftliche Erfolge könnten zu einer Stabilisierung unter Bashir führen.
Eine weitere Zuspitzung der Situation ergibt sich, wenn sich Teile des Sicherheitsapparates vom Regime abspalten und Allianzen mit der bestehenden bewaffneten Opposition bilden. Diese Fragmentierung führt zu einer weiteren Eskalation des Bürgerkriegs, der militärisch nicht gewonnen werden kann, aber Ressourcen bindet. Unter diesen Umständen wird sich die Regierung illiberalen Staaten zuwenden, die den Bürgerkrieg finanzieren. Für westliche Interessen wie die Sicherheit der Handelswege im Roten Meer, Migrationskooperation und Anti-Terrorkampf wäre dies das schlechteste Szenario.
Zweitens: Das Ägypten-Mubarak-Szenario: Die Proteste halten an und eskalieren. Die Aufspaltung des Militärs und der Zusammenschluss von politischen Parteien, den Demonstrierenden und Teilen des Sicherheitsapparats setzt die Regierungsspitze unter Druck. Es kommt zu einem Militärputsch oder einem auf Druck der Opposition herbeigeführten Führungswechsel. Im Anschluss müssen neue Allianzen erst hergestellt und Interessendivergenzen überwunden werden. Die Bekämpfung des sich aufbäumenden alten Regimes bindet enorme Kraft. Das Land würde somit als regionaler Akteur und für die Kooperation mit Europa für einige Zeit ausfallen.
Drittens: Das Äthiopien-Abiy-Szenario: Die Regierung setzt ein deutliches Zeichen, dass sie bereit für einen Wandel ist. Bashir kündigt seinen baldigen Rücktritt an. Neuwahlen werden angekündigt, und es wird eine Übergangsregierung der "nationalen Einheit" gebildet, die sich aus politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Kräften aus allen Landesteilen zusammensetzt. Eine Roadmap, die sich vor allem auf wirtschaftliche Reformen konzentriert, wird ausgearbeitet. Frustrierte Elemente der alten Garde versuchen die neue Konstellation zu torpedieren, sind aber deutlich schwächer als beim vorangehenden Szenario, da die Regierung der nationalen Einheit inklusiver und dadurch stärker ist. Der Sudan bleibt ein berechenbarer regionaler und internationaler Akteur.
Für eine nachhaltige Stabilisierung ist die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage ausschlaggebend, aber auch ein politischer Prozess notwendig. Um die notwendigen ökonomischen Reformen anzugehen, bedarf es finanzieller Hilfen und Investitionen von außen.
Hier ist ein verstärktes Engagement durch Europa gefragt, das allerdings nur dann sinnvoll ist, wenn es ein Zeichen des Aufbruchs und Veränderungswillens aus Khartum gibt. In einem politischen Veränderungsprozess könnte Europa als Mittler fungieren, da es sowohl von der Regierung als auch von der Opposition als vertrauenswürdiger Partner gesehen wird.
Annette Weber
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