Sehnsucht nach Heimat
In seinem 2021 erschienenen Roman wirft Rabih Alameddine seine Leser mitten hinein in die Tragödie der Flüchtlingslager auf Lesbos. Aber sein Roman ist mehr als eine weitere literarische Reise durch Kummer und Schmerz von Geflüchteten. Vielmehr werden wir stille Begleiter der Transfrau und Ärztin Mina Simpson während ihrer Arbeit auf Lesbos. Mina ist Amerikanerin libanesischer Abstammung. Sie hat ihrem Heimatland den Rücken gekehrt; einerseits, um zu studieren, andererseits, um sich von ihrer Familie zu befreien.
Zum Auftakt der Erzählung landet Mina auf Lesbos. Sie folgt damit der dringenden Bitte eines Freundes, der ihr berichtete, dass auf der Insel dringend Ärzte benötigt werden, die den Geflüchteten helfen können. Vordergründig ist sie gekommen, um ärztliche Hilfe zu leisten. Es gibt aber einen weiteren Grund: Seit sie in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist, um dort zu studieren, ist sie nie wieder ihrer ursprünglichen Heimat Libanon so nahe gekommen wie auf dieser Insel in der Ägäis.
Der Leser weiß ebenso wenig wie Mina, was ihn auf Lesbos erwarten wird. Wir alle haben zwar von den Menschen gehört, die auf der Insel stranden. Und wir wissen von der Insel als Zwischenstopp auf dem langen mühseligen Fluchtweg von Menschen, die Schutz vor den Gefahren in ihren Heimatländern suchen. Doch diese oft schrecklichen Bilder erzählen nicht die ganze Geschichte. Denn der Blick für die Einzelschicksale der Menschen geht leicht verloren. Indem wir an Minas Leben teilhaben und Lesbos durch ihre Augen sehen, wird die Wirklichkeit des Flüchtlingslagers auf eine Weise lebendig, wie dies kein Beitrag in den Nachrichten zu leisten vermag.
Auf einer Brücke des Mitgefühls
Die Geschichte der Ärztin Mina und den anderen Helfern, die Alameddine uns vorstellt, ist nicht direkt mit der Notlage der Menschen in den Lagern vergleichbar. Aber es gibt doch Parallelen zu deren Migrationsgeschichte, wodurch diese Schicksale für den Leser eine Art Brückenfunktion bedeuten: Sie sprechen unser Mitgefühl als Leser an. Mina und ihre Begleiter haben zwar nicht auf Seelenverkäufern die gefährliche Reise über das Meer angetreten, aber auch sie sehnen sich nach einer Heimat – sei es metaphorisch oder real. Entweder versuchen sie, der eigenen Familie zu entkommen, dem Krieg in Syrien oder der notorischen Instabilität im Libanon.
Lesbos erscheint als ein Ort, an dem sich die Wege von Menschen aus allen Nationen treffen. Was die Menschen antreibt, die alles riskiert haben, um hierher zu gelangen, ist offensichtlich. Bei den anderen ist das weniger eindeutig.
Zunächst sind da die Helfertouristen. Diese Freiwilligen kommen vordergründig mit dem Wunsch zu helfen nach Lesbos und in die Lager. Gleichzeitig aber posieren sie für Selfies am Strand, während geflüchtete Menschen aus dem Meer an Land taumeln. Wollen sie bloß ihr Ego öffentlich pflegen und der Welt und ihren Followern auf Instagram zeigen, wie edel und aufopferungsvoll sie sind?
Selbst Mina ist sich über ihre eigenen Beweggründe nicht im Klaren. Ohne Frage werden Ärztinnen gebraucht. Aber wenn das der eigentliche Grund für ihr Engagement ist, warum hat sie dann auch ein Treffen mit ihrem Bruder arrangiert?
Mina hat ihren Bruder nicht mehr gesehen, seit sie den Libanon verlassen hat. Doch es steckt mehr dahinter.
Ihr Bruder ist der einzige in ihrer Familie, der sie wieder an seinem Leben teilhaben lässt. Alle anderen haben sie verstoßen und wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben. Somit ist der Bruder ihre einzige Verbindung zur ursprünglichen Heimat.
Die Vergangenheit kehrt zurück
Als Mina auf Sumaiya und ihre Familie trifft, treten ihre eigenen Probleme in den Hintergrund. Sumaiya war unter extremen Bedingungen vor den Kriegsgräueln in Syrien geflüchtet. Ein IS-Kommandant wollte die Ehe mit Sumaiyas erst 11-jähriger Tochter erzwingen.
Jetzt hat Sumaiya Leberkrebs im Endstadium und leidet unter ständigen Schmerzen. Nachdem sie und ihre Familie es nach Lesbos geschafft haben, kann Mina nichts weiter für Sumaiya tun, als ihre Schmerzen zu lindern.
Sumaiyas Würde im Angesicht des quälenden Leids und ihre unbändige Unabhängigkeit wirken auf Mina und ihre Gefährten wie ein Katalysator für die Bewältigung ihrer eigenen Vergangenheit.
Mina erinnert sich an ihre Zeit im Libanon, als sie sich noch nicht als homosexuell, geschweige denn als Transfrau, geoutet hatte. Schon damals warf ihr die Mutter vor, eine Schande für die Familie zu sein.
Bis heute kommt Mina über diese Ablehnung nicht hinweg. Das Wiedersehen mit ihrem Bruder und die Hingabe Sumaiyas an ihre Familie bringen Erinnerungen und Gefühle zurück.
Alameddine lässt Mina so erzählen, als berichte sie ihre Geschichte einem unbekannten Dritten, einem Schriftsteller. Dieser Schriftsteller ist wie Alameddine Libanese und könnte durchaus Autor des Buches sein. Wäre Mina katholisch, würden wir diesen Vertrauten wohl ihren Beichtvater nennen: Sie erzählt ihm Dinge, die sie sonst niemandem offenbart.
Fesselnd und emotional
Gleichzeitig werden wir mit der Geschichte des Schriftstellers vertraut gemacht. Anfangs nehmen wir an, dass beide eng befreundet sind. Doch dann wird klar, bevor sie sich auf Lesbos begegneten, verband sie lediglich eine Bekanntschaft. Er interviewt Geflüchtete, weil er über deren Schicksal schreiben will, scheitert aber kläglich. Jetzt will er sich nur noch in seinem Zimmer verkriechen.
Erfahren wir von Alameddine, warum er so vorgegangen ist, um über die Lage auf Lesbos zu schreiben? Konnte er das Schicksal der Geflüchteten nur indirekt thematisieren, weil ihn die Wirklichkeit derart überwältigt hat? Diese Fragen bleiben offen, aber Alameddines erzählerische Figur, lässt uns darüber nachdenken, wie Menschen auf traumatische Erfahrungen reagieren.
Alameddine nimmt uns im Laufe von Minas Geschichte an zahlreiche Schauplätze zwischen dem Flüchtlingslager, dem Libanon und den heutigen USA mit. Auch wenn die jeweiligen Stränge der Geschichte zunächst zusammenhanglos erscheinen, so verwebt er sie nach und nach zu einem lebendigen Bild.
Seine Protagonistin Mina ist ein faszinierender Charakter. Wir folgen ihr gerne durch ihre Welt. Angefangen bei ihrer Kindheit im Libanon und weiter über das sichere und komfortable Zuhause bei ihrer Frau in den USA bis hin zu den Flüchtlingslagern auf Lesbos erleben wir sie in verschiedensten Umgebungen. Wir gewinnen den Eindruck einer Frau, die nach Jahren der Odyssee endlich ihr Ziel erreicht und eine Heimat in einem neuen Land gefunden hat.
The Wrong End of the Telescope ist ein fesselndes und anrührendes Buch. Alameddine geht den Spuren von Menschen nach, die versuchen, ungeheures Leid zu bewältigen. Er öffnet mit beispiellosem Einfühlungsvermögen unseren Blick für die Not von Geflüchteten.
© Qantara.de 2022
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers