Sind arabische Gesellschaften rassistisch?

Die arabische Welt krankt an einer systemimmanenten Intoleranz gegenüber dem "Anderen". Das rassistische Klima in der Region trägt zur Herausbildung einer aggressiv-ablehnenden Grundhaltung gegenüber allem bei, was von der herrschenden Norm abweicht. Von Khaled al-Khamissi

Essay von Khaled al-Khamissi

Sind die arabischen Gesellschaften – und im konkreten Fall die ägyptische Gesellschaft – rassistisch? Eine Frage, die im Laufe der vergangenen Jahre in den öffentlichen Diskurs vorgedrungen war, um dann aber ganz schnell wieder von anderen, für die Alltagsnöte der Menschen vermeintlich dringlicheren Fragen überlagert zu werden. Dass eine Antwort darauf noch aussteht, liegt an der Komplexität und Tabuisierung des Themas sowie an der Schwierigkeit, in arabischen Ländern seriöse Meinungsumfragen durchzuführen. Doch mit der weltweiten Welle anti-rassistischer Proteste nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA ist die Frage erneut in den Fokus gerückt.

Zunächst eine grobe Begriffsdefinition: Rassismus ist die Überzeugung, dass Menschen je nach Hautfarbe unterschiedliche Fähigkeiten und Eigenschaften besitzen. Ferner steht der Begriff manchmal auch für die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Religion. Etwa wenn ein Ägypter muslimischen Glaubens behauptet, ägyptische Kopten würden schlecht riechen, und damit eine pauschale Aussage über die biologische Beschaffenheit aller Kopten trifft. Ich habe diesen Satz leider mehr als einmal gehört.

Auch wenn das dahinter stehende Konzept meinem Denken fremd, dumm, ja verrückt anmutet: Rassismus ist eine Konstante in der arabischen Geschichte (und im weitesten Sinne die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch). Das Muster ist immer das gleiche. Zuerst werden immer tiefere Gräben zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen aufgerissen, dann wird eine Situation geschaffen, in der sich ein Schwall des Hasses ungehindert in eben jene Gräben ergießt und sie bis oben hin füllt, bis schließlich den hasserfüllten Fluten ein so widerwärtiger Gestank entströmt, dass es einem den Atem verschlägt.

Der Hass kann auch andere Merkmale jenseits von Hautfarbe und Religionszugehörigkeit zur Zielscheibe haben, wie etwa die sexuelle Orientierung oder die körperliche oder geistige Einschränkung einer Person. Ganz im Sinne des Sprichworts: "Wenn der Einäugige in den Himmel kommt, verdirbt er ihn." Der Einäugige steht hier, wie es der ägyptische Historiker Ahmed Taymour beschrieben hat, für Verderbtheit und Arglist.

Rassismus – eine Konstante in der arabischen Geschichte

Von Al-Mutanabbi, dem herausragendsten aller arabischen Dichter, ist ein berühmter Spottvers gegen den Ichschididen-Herrscher Abu l-Misk Kafur (10. Jahrhundert n.Chr.) überliefert: "Man kaufe den Sklaven nur zusammen mit der Rute… denn unrein und verdorben (arab. andschas manakid) sind die Sklaven". In diesem Vers bringt Al-Mutanabbi mit der ihm eigenen sprachlichen Originalität das Wesen des Rassismus auf den Punkt. Der schwarze Sklave – gemeint ist diesem Fall Kafur, der von abessinischen Sklaven abstammte – sei nadschas, also schmutzig, dreckig, unrein, sowie mankud, also von schlechtem Charakter. Deshalb müsse man ihn mit dem Stock züchtigen. Al-Mutanabbi schreibt also schwarzen Sklaven in ihrer Gesamtheit negative Charaktereigenschaften zu.

Dieses sprachliche Vermächtnis hat Al-Mutanabbi keineswegs aus dem Nichts hervorgezaubert. Es rutschte ihm auch nicht einfach so in einer emotionalen Aufwallung heraus, um Kafur mit Spott zu überziehen. Vielmehr konnte er bereits auf fest etablierte rassistische Strukturen zurückgreifen. Sklaverei war ein integraler Bestandteil des gesellschaftlichen und ökonomischen Systems des islamischen Staatswesens, unter dem unser Dichter lebte.

Das islamische Recht differenzierte klar zwischen Herren und Sklaven: So galt für Sklaven nicht die religiöse Pflicht des Freitagsgebets. Für Sklavinnen betrug die vorgeschriebene Wartezeit bis zu einer erneuten Heirat nach dem Tod ihres Ehemannes nur zwei Monate, statt vier Monate für freie Frauen. Ein Sklave konnte mit Erlaubnis seines Herren bis zu zwei Frauen heiraten, nicht bis zu vier wie ein freier Mann. Solche und weitere Bestimmungen regelten bis ins Detail die Stellung der Sklaven in der Gesellschaft, in der Al-Mutanabbi aufwuchs. Dieses System blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehen.

Die soziale und rechtliche Ordnung unter den Umayyaden, den Abbasiden und allen nachfolgenden Dynastien in der arabischen Welt war also eine Ordnung, die klar zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen differenzierte. Daher war es nicht verwunderlich, dass die arabischen Länder die letzten auf der ganzen Welt waren, die schließlich auf Druck hin den Handel mit Sklaven und die Praxis der Sklaverei abschafften.

Abschaffung der Sklaverei als Häresie gegen den Glauben

Die meisten anderen Länder hatten die Sklaverei bereits im 19. Jahrhundert abgeschafft. Als letztes nicht-arabisches Land erließ China im Jahr 1909 ein Gesetz zur Abschaffung des Sklavenhandels, welches 1910 in Kraft trat.

Ganz anders in der arabischen Welt: In Saudi-Arabien wurde die Sklaverei 1962 abgeschafft, die Umsetzung des Beschlusses in die Praxis soll sich mehr als sieben Jahre in die Länge gezogen haben. Im Jemen und im Oman erfolgte die Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1970, in Mauretanien sogar erst im Jahr 1981.

Eine Reihe von islamischen Rechtsgelehrten erließen Gutachten, denen zufolge die Abschaffung der Sklaverei eine Häresie gegen den islamischen Glauben darstelle. Denn es sei im Islam verboten, etwas untersagen zu wollen, was gemäß der Scharia "halal", also erlaubt sei. Dabei beriefen sie sich auf den ersten Vers der 66. Sure des Korans, Al-Tahrim (= Das Verbieten): "Prophet! Warum erklärst du denn im Bestreben, deine Gattinnen zufriedenzustellen, für verboten, was Gott dir erlaubt hat? Aber Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben."

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert vertritt die Mehrheit der arabischen Religionsgelehrten zunehmend eine die Abschaffung der Sklaverei befürwortende Haltung. Dennoch sollten sich all jene Gelehrten die Frage gefallen lassen: Hatte die alte islamische Welt, wie sie bis Anfang des 19. Jahrhunderts existierte, denn jemals die Abschaffung der Sklaverei für notwendig erklärt? Meines Wissens lautet die Antwort nein.

[embed:render:embedded:node:16981]An dieser Stelle möchte ich etwas sehr Persönliches preisgeben. Etwas, worüber ich noch nie zuvor gesprochen habe: Mein im Jahr 1899 geborener Großvater – bei dem ich aufwuchs, nachdem meine Mutter verstarb, als ich fünf Jahre alte war – war Besitzer eines Eunuchensklaven. Und seine Schwestern hatten eine Sklavin aus Abessinien. Zwar war in Ägypten der Sklavenhandel bereits 1877 verboten worden, doch bis 1894 existierte das Verbot nur auf dem Papier. Auch danach wurden die Sklaven nicht automatisch frei gelassen, sondern blieben für den Rest des Lebens im Besitz ihrer Herren.

Sklaverei – kein Phänomen aus grauer Vorzeit

Das rassistische System der Sklaverei, das auf der Annahme basierte, bestimmte Bevölkerungsgruppen stünden biologisch auf einer niedrigeren Stufe als andere, ist keineswegs ein unserer Gegenwart fremdes System. Wir reden hier nicht über ein Phänomen aus grauer Vorzeit, sondern über ein System, das bis vor gar nicht so langer Zeit noch Bestand hatte. Und vermutlich wird in einigen arabischen Ländern bis zum heutigen Tage mit Sklaven Handel getrieben.

Es nimmt daher leider nicht wunder, wenn eine junge Frau mit schwarzer Hautfarbe – oder wie wir in Ägypten sagen, eine "Braune" (arab. samraa) – sich rassistische Kommentare von ägyptischen Männern anhören muss, deren Teint ebenfalls recht dunkel ist. Für Frauen subsaharischer Herkunft ist so etwas Alltag auf den Straßen Kairos.

Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch mit Studentinnen aus afrikanischen Ländern an der Senghor-Universität in Alexandria, als ich dort Masterarbeiten betreute. Sie berichteten mir davon, wie sehr sie von Rassismus betroffen waren – und das in Alexandria, der "Braut des Mittelmeers", auf deren Toleranz wir jahrzehntelang so stolz gewesen sind!

Eine weitere traurige, aber leider auch nicht erstaunliche Tatsache ist, dass wir in Ägypten nach mehr als 100 Jahren reichhaltiger Filmgeschichte keinen einzigen Filmstar mit dunkler Hautfarbe hervorgebracht haben. Wohingegen es sehr wohl eine ganze Reihe blonder Schauspielerinnen gibt, wie etwa Mariam Fakhr Eddine, Nadia Lutfi, Mervat Amin und viele andere, obwohl blonde Ägypterinnen im Alltag eine Seltenheit sind.

Nährboden für eine aggressiv-ablehnende Grundhaltung

In einem Diskussionsbeitrag zum Thema Rassismus schrieb der große ägyptische Regisseur Yousry Nasrallah auf Facebook: "Ich werde nie vergessen, wie ich in den 70er-Jahren im Radio Cinema im Zentrum von Kairo den US-Film 'Slaves' gesehen habe. Ohne näher auf die Handlung eingehen zu wollen: Als äußerst verstörend fiel mir auf, dass die damalige Zensur keinerlei Nacktszenen mit schwarzen Frauen herausgeschnitten hatte, jedoch sämtliche Nacktszenen, in denen weiße Frauen mitspielten."

Hier haben wir es mit einer weiteren Ebene des Rassismus zu tun, nämlich Rassismus in Form staatlich-institutioneller Zensur von künstlerischen Produktionen. Die Zensoren fanden offenbar nicht, dass die Körper schwarzer Frauen verführerisch oder sexuell erregend im Sinne ihrer sterilen Zensurmaßstäbe sein könnten. Jene Frauen waren für sie ja nichts weiter als Verkaufsgegenstände, so wie ein Stuhl oder ein Bett aus Ebenholz. Bei den Körpern weißer Schauspielerinnen, ja, da musste selbstverständlich die Zensoren-Schere her, um sie unsichtbar zu machen.

Schwarze Frauen in Kairo, Ägypten; Foto: DW/R. Mokbel
"Rassismus hat in der arabischen Welt den Nährboden bereitet für die Herausbildung einer aggressiv-ablehnenden Grundhaltung gegenüber allem, was von der herrschenden Norm oder dem als 'natürlich' Empfundenen abweicht", so Khaled al-Khamissi..

Diese Art von Rassismus hat in der arabischen Welt den Nährboden bereitet für die Herausbildung einer aggressiv-ablehnenden Grundhaltung gegenüber allem, was von der herrschenden Norm oder dem als „natürlich“ Empfundenen abweicht.

Es ist nicht nur so, wie es der Dichter Ahmed Fouad Negm in seinem Gedicht "Ein Hoch auf die Leute meines Landes!" (arab. Ya’isch ahel baladi) beschrieben hat:

"Ein Hoch auf die Leute meines Landes, die keine Ahnung davon haben, wie man sich zusammenschließt. Jede Gruppe lebt für sich, sich voreinander fürchtend, hinter Vorhängen und Fenstergittern Schutz suchend."

In Wirklichkeit ist die Beziehung zwischen jenen unterschiedlichen Gruppen nicht von Furcht geprägt, und man begnügt sich auch nicht damit, sich mit schlichten Vorhängen voneinander abzuschirmen. Vielmehr handelt es sich um eine Beziehung voller Feindseligkeit und Gewalt, wie sie zum Beispiel die LGBT-Aktivistin Sarah Hegazi im Juni dieses Jahres in den Suizid getrieben hat, nachdem sie vor Jahren auf einem Konzert eine Regenbogenfahne hochgehalten hatte. Daraufhin wurde sie vom ägyptischen Staat drei Monate lang gefangen gehalten und schwer misshandelt. Nach einer Serie von Einschüchterungsversuchen sah sie sich zur Flucht nach Kanada gezwungen. Hierbei handelt es sich eindeutig um einen Fall von Gewalt, wie er immer wieder vorkommt. Es ließen sich unzählige weitere Beispiele dafür nennen.

Laut einer von Insider Monkey durchgeführten Studie landeten drei arabische Länder – Jordanien, Saudi-Arabien, Libanon – unter den acht rassistischsten Ländern der Welt. Auch wenn ich keinerlei Vertrauen in so eine Art von Studien hege, so sagt mir doch meine persönliche Erfahrung, dass die arabische Welt an einer systemimmanenten Intoleranz gegenüber dem "Anderen" krankt. Um diese zu überwinden, bedürfte es großer Anstrengungen, eines langen Atems und einer politischen Entschlossenheit, die bisher leider völlig fehlt.

Doch es ist an jeder und jedem von uns, uns auf den Weg zu machen, um der in uns latent vorhandenen Aggressivität gegenüber allem, was anders ist als wir, die Stirn zu bieten.

Khaled al-Khamissi

© Qantara.de 2020

Übersetzt aus dem Arabischen von Rafael Sanchez

Khaled al-Khamissi ist ein bekannter ägyptischer Schriftsteller, Autor mehrerer Romane, Hochschuldozent und Kulturaktivist. In seinen Romanen "Im Taxi. Unterwegs in Kairo", "Arche Noah" (beide in deutscher Übersetzung erschienen) und "Shamandar" seziert al-Khamissi die ägyptische Gesellschaft in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2014 erschien sein erstes nicht-fiktionales Werk "2011" (Titel der englischen Übersetzung). Seine in Ägypten und im Ausland publizierten Essays gewähren einen vielseitigen Einblick in sein Schaffen als politischer Analyst und Romancier.