Mehr Menschlichkeit wagen

Mesut Hancer trauert nach dem Erdbeben in der Türkei inmitten der Trümmer um seine verstorbene Tochter. Das Bild des Vaters geht um die Welt.
Mesut Hancer trauert nach dem Erdbeben in der Türkei inmitten der Trümmer um seine verstorbene Tochter. Das Bild des Vaters geht um die Welt.

Diskussionen über die Ursachen und Folgen der Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien zeigen, wie wichtig es ist, humanistisch gesinnte Stimmen zu unterstützen, die das Menschliche über die religiöse Instrumentalisierung von Katastrophen stellen. Von Mustafa Karahamad

Essay von Mustafa Karahamad

Bei den verheerenden Erdbeben vom 6. Februar dieses Jahres verloren nach Angaben türkischer und syrischer Behörden mehr als 50.000 Menschen ihr Leben. Die meisten davon in der Türkei. Für die beiden Länder war es die größte Naturkatastrophe seit mehr als einhundert Jahren. Während eines Besuchs in den am stärksten betroffenen Gebieten bezeichnete der Direktor des Welternährungsprogramms, David Beasley, die dortigen Städte als „Geisterstädte“ und die Lage vor Ort als „unbegreiflich, verheerend und apokalyptisch“. Angemessene Worte für die Eindrücke vor Ort.

Derartige Naturkatastrophen haben nicht nur gravierende Folgen für die betroffenen Länder und deren Infrastrukturen. In ihrem medialen Echo spiegeln sich die Entwicklungen gesellschaftlicher Diskurse, wozu auch die Glaubensvorstellungen als wichtige Säule gehören. Nach dem Scheitern des Arabischen Frühlings als demokratisches Projekt und der Mutation vieler Aufstände zu bewaffneten islamistischen Bewegungen – ganz zu schweigen vom Scheitern des demokratischen Übergangs in Ländern, in denen die Aufstände erfolgreich waren – besetzen heute weiterhin religiöse Kräfte den öffentlichen Raum in der arabischen Welt.

Weil politische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen unterdrückt und eine wirksame politische Teilhabe unterbunden oder eingeschränkt werden, bleiben vielen arabischen Bürgerinnen und Bürgern nur begrenzte Möglichkeiten. Dies gilt für den öffentlichen Raum mit seiner medialen Zensur ebenso wie in religiösen Kreisen. Aus diesem Grund gilt es, einen genaueren Blick auf die religiösen Narrative zu werfen, die derzeit im Nahen Osten im Nachgang der Beben in der Türkei und Syrien kursieren.

„Strafe Gottes“

Naturkatastrophen seien ein Beweis für die zunehmende Verderbtheit der vom Unglück Betroffenen, behauptete der ehemalige Al-Azhar-Absolvent Abdullah Rushdi in einem Video auf seiner Facebook-Seite. Damit löste er eine Welle der Kritik unter seinen Followern aus, die darauf hinwiesen, dass viele der Opfer auf der Flucht vor dem Krieg in Syrien gewesen seien. Rushdie entgegnete, dass die „göttliche Vergeltung in ihrer Logik das menschliche Verständnis übersteigt“.

Gräber von Erdbebenopfern in der Türkei (Bild: Selahattin Sonmez/DVM/abaca/picture alliance)
Das verheerende Erdbeben vom Februar in Zahlen: Mindestens 50.000 Menschen verloren ihr Leben, 214.000 Gebäude stürzten ein und allein in der Türkei wurden elf Städte vollständig zerstört. Millionen von Menschen verloren ihr Zuhause und sind dringend auf Hilfe angewiesen

Ähnlich äußerte sich der ägyptische Regimegegner Abu Ishaq al-Huwaini. Der salafistische Prediger vertrat die Ansicht, die jüngste Katastrophe sei eine Warnung an die Überlebenden, auf den „Pfad Gottes“ zurückzukehren, womit er selbstredend den salafistischen Pfad meinte. Im gleichen Zusammenhang twitterte der libanesische schiitische Prediger Sami Khadra, das Beben sei eine Erinnerung an die „Größe Gottes“ und ermahne die Gläubigen, sich vom „Weg der Sünde und Versäumnisse“ abzuwenden. Auch Khadra löste damit eine heftige Kritik unter seinen Followern aus, die er jedoch damit abtat, „Atheisten und Linke“ verständen seine Ansichten nicht. Den sozialen Medien warf er vor, seinen Gegnern zu ermöglichen, ihre Meinung überhaupt zu äußern.

Auf einigen libanesischen Social-Media-Seiten hieß es, Gott bestrafe die Türkei mit dem Erdbeben dafür, die Hagia Sophia vor zwei Jahren in eine Moschee umgewidmet zu haben. Pater Abdo Abu Kasem, Leiter des katholischen Medienzentrums im Libanon, veröffentlichte ein Video, in dem er diese Deutungen zurückwies. Der christliche Glauben kenne keine kollektive Strafe Gottes. Glaube solle sich nicht aus Furcht  speisen. Gleichwohl rief er in demselben Video „Atheisten, Abtreibungsbefürworter und Unterstützer der Homosexualität“ dazu auf, „zu Gott zurückzukehren und aus den jüngsten Ereignissen zu lernen“.

Diese Deutungen sind wohlgemerkt nicht repräsentativ für alle Gläubigen, die den genannten Religionen oder Konfessionen angehören. Doch allein die Existenz eines solchen Diskurses ist bezeichnend – insbesondere angesichts fehlender humanistischer Denkansätze. Die unterschiedlichen Äußerungen von Vertretern verschiedener religiöser Gruppen zeigen, in welchem Maße die Katastrophe für religiöse Zwecke instrumentalisiert wird.

Vor dem Hintergrund der Empörungswelle veröffentlichte der ägyptische Prediger Mustafa Hosni ein Video, in dem er Hadithe zitierte, die Naturkatastrophen als Plage in vorislamischer Zeit bezeichnen, die Gott für die islamische Umma aber zur Gnade werden ließ, indem die Opfer in den Rang von Märtyrern erhoben werden.  Ungeachtet seiner völlig anderen Auslegung teilen Mustafa Hosni und der ehemalige Al-Azhar-Student Abdullah Rushdi damit den Glauben an die Logik der göttlichen Vergeltung.

Der jordanische Prediger Dr. Iyad Al-Qunaibi gibt zu bedenken, dass die Katastrophe jeden Menschen in dieser Region getroffen habe. Wie Hosni sieht er den Stellenwert der betroffenen Muslime erhöht, erkennt in den Beben aber auch eine Strafe für die Ungläubigen, wie er in einem Video auf seiner Facebook-Seite erläutert. Die Menschen seien je nach dem Grad ihrer Frömmigkeit betroffen und die Muslime unter den Opfer seien Märtyrer, so Al-Qunaibi.

Instrumentalisierung und Daʿwa als Hauptziele

Als Reaktion auf die Katastrophe sahen sich Religionsvertreter veranlasst, die Ereignisse auf ihre Weise zu deuten. Diejenigen, die das Beben als einen Akt göttlicher Vergeltung auslegen, sehen in der Katastrophe eine Chance, Anhänger zu gewinnen und die Menschen dazu aufzurufen (Daʿwa), sich den Lehren der von ihnen vertretenen Glaubensauffassung anzuschließen. Demnach kam das Erdbeben über die Menschen, weil sie moralisch verwerflich handelten und nicht den religiösen Lehren folgten.

So werden die Opfer als Sünder abgestempelt, an denen Gott ein Exempel statuieren wollte. Auf solche Äußerungen regierten die Menschen allerdings nicht wie von den einschlägigen Predigern erhofft. Diese sahen sich nunmehr dem Vorwurf mangelnder Menschlichkeit ausgesetzt. Gleichzeitig diskutierten immer mehr Menschen über das Wesen der göttlichen Gerechtigkeit.

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Dies vor Augen gingen die religiösen Autoritäten in die Defensive und boten den Kritikern der ursprünglichen religiösen Deutung eine gemäßigtere Variante an. Sie zeigten sich solidarisch mit den Opfern, bezeichnen diese nicht mehr als Sünder, sondern als Märtyrer, und vertraten die Meinung, dass das Leiden der Menschen mehr Beachtung verdiene als das eigentliche Erdbeben. Dies mag humaner und pragmatischer erscheinen. Doch die muslimischen Religionsvertreter gewähren den Status des Märtyrers nur ihren muslimischen Brüdern und Schwestern und beschränken ihr Mitgefühl ausschließlich auf diese.

Eine humanere Herangehensweise

Einige Kleriker, insbesondere syrische, vermieden eine religiöse Deutung oder metaphysische Erklärung des Erdbebens oder Aussagen zur Stellung der Opfer. Der gesellschaftliche Schock war weitaus stärker als das religiös motivierte Verlangen nach Deutung oder der Wunsch, das Ereignis zu instrumentalisieren. So sprach der syrische Wissenschaftler und Islamgelehrte Dr. Muhammad Ratib al-Nabulsi den Familien der Opfer schlicht sein Beileid aus und rief die Gläubigen zu Spenden für die Familien der Opfer auf, was er als „Gottesdienst der Stunde“ würdigte.

Der Gelehrte für islamische Rechtsfindung, Muhammad Habash, äußerte sich auf seiner Facebook-Seite selbstkritisch: „Wie töricht und unmenschlich waren wir, als wir uns nach dem Tsunami und dem Erdbeben von Agadir in Schuldzuweisungen ergingen und über Gottes Rache, Gottes Zorn und Gottes Täuschung schwadronierten.“

Habash distanziert sich nicht nur von einer religiösen Auslegung, die sich gegen die Opfer des Erdbebens wenden könnte. Er leistet stattdessen religiösen Beistand und lindert so die Not der von der Katastrophe Betroffenen. Seit dem Erdbeben wirkt er an der Ausarbeitung religiöser Vorschriften für die Adoption von Kindern mit, die ihre Eltern bei dem Beben verloren haben.

Auf ihn geht die Idee der „Verbindung“ zurück als eine nach islamischem Recht akzeptable Alternative zur Adoption, die alle edlen Aspekte der Adoption erfüllt, ohne den Familiennamen des angenommenen Kindes zu ändern oder das im Islam praktizierte Erbschaftsrecht zu beeinträchtigen.

Kritische Standpunkte fehlen

In der aktuellen Diskussion gehen kritische Stimmen leicht unter. Diese nehmen den Menschen in den Blick und verweisen auf Versäumnisse des Staates und auf die gesellschaftliche Verantwortung der Religionsvertreter. Kleriker könnten beispielsweise auf die vielen Ingenieure, Planer und Beamten zeigen, die mit ihren Versäumnissen für die hohe Zahl von Opfern nach dem Erdbeben mitverantwortlich sind. Ebenso wie auf die in arabischen Ländern allgemein mangelnde Katastrophenvorsorge oder auf die Notwendigkeit, den Betroffenen ohne Wertung zu helfen.

Religionsvertreter argumentieren im Rahmen einer komplexen Beziehung zum Staat und seinem Apparat. Das erklärt, warum kritische Ansichten in nicht-demokratischen arabischen Ländern entweder stark eingeschränkt sind oder ganz fehlen. Stattdessen treffen wir auf metaphysische Erzählungen, die in der Regel polarisierend oder apologetisch sind: Die einen sehen in der Katastrophe eine Strafe, die anderen einen Sündenerlass.

Wenn uns der aktuelle religiöse Diskurs nach dem Erdbeben etwas lehrt, dann die Erkenntnis, dass eine institutionelle Reform in den arabischen Ländern überfällig ist. Diejenigen Stimmen, die die Menschlichkeit über eine religiöse Polarisierung stellen, verdienen unsere bedingungslose Unterstützung.

Mustafa Karahamad

© Qantara.de 2023

Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Gaby Lammers



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