Europa drückt die Augen zu

Algeriens Regime geht erneut gegen die Anti-Fracking- und Arbeitslosenbewegungen im Süden des Landes vor. Europäische Staaten wollen trotz Repressionen gegen Umweltaktivisten ihre Energiekooperation mit Algier ausbauen.
Algeriens Regime geht erneut gegen die Anti-Fracking- und Arbeitslosenbewegungen im Süden des Landes vor. Europäische Staaten wollen trotz Repressionen gegen Umweltaktivisten ihre Energiekooperation mit Algier ausbauen.

Algeriens Regime geht erneut gegen die Anti-Fracking- und Arbeitslosenbewegungen im Süden des Landes vor. Europäische Staaten wollen trotz Repressionen gegen Umweltaktivisten ihre Energiekooperation mit Algier ausbauen. Von Sofian Philip Naceur

Von Sofian Philip Naceur

Russlands Angriff auf die Ukraine lässt zahlreiche EU-Staaten weiterhin fieberhaft nach neuen Gaslieferanten Ausschau halten. Im Fokus dieser Bemühungen stehen nicht nur das Golfemirat Katar, Israel und Ägypten, sondern auch Algerien – eine der wenigen in unmittelbarer Nähe zu Europa liegenden Optionen. Algerien ist bereits durch drei nicht ausgelastete Pipelines mit dem europäischen Verteilernetz verbunden, es hat beachtliche Gas- und Schiefergasreserven und macht keinen Hehl aus seinem Interesse an neuen Energiedeals.

Das neue algerische Energiegesetz – erst 2020 unter Protesten der Opposition durchgedrückt – vereinfache Kooperationen und Investitionen von internationalen Partnern im Land, erklärte der algerische Energieminister Mohamed Arkab jüngst im Interview mit dem Spiegel.

Derweil gab Algeriens staatseigener Energiegigant Sonatrach erst am Wochenende die Entdeckung eines neuen, bedeutenden Gasreservoirs im zentralalgerischen Hassi R‘Mel bekannt. Die potentielle Größe des Funds erlaube "eine der größten Neubewertungen der Reserven der letzten 20 Jahren“, so die Sonatrach in ihrer Erklärung. Noch Ende 2022 soll die Förderung beginnen. Das Timing könnte nicht besser sein.

Solidaritätsbanner für den algerischen Aktivisten Mohad Gasmi; Quelle: Facebook
Verurteilt wegen angeblicher Unterstützung des Terrorismus: Im Oktober 2021 hatte ein Gericht den aus dem südalgerischen Adrar stammenden und seit Juni 2020 inhaftierten Mohad Gasmi wegen Äußerungen in sozialen Medien, in denen er nach Lesart der algerischen Justiz Terrorismus verherrlicht habe, zu fünf Jahren Haft verurteilt. Im Berufungsprozess Anfang Juni war das Strafmaß zwar auf drei Jahre – eines davon auf Bewährung – reduziert worden. Doch mit dem Urteil wurde im Land nun erstmals ein Umweltaktivist auf der Basis von Terrorismusvorwürfen rechtskräftig für schuldig erklärt.

Algiers Bestrebungen, Investoren im Energiesektor anzulocken und seine Produktion zu steigern, haben jedoch nicht nur klimapolitisch einen bitteren Nachgeschmack. Das Regime geht auch repressiv gegen die Anti-Fracking- und Arbeitslosenbewegung in den wichtigsten Gasfördergebieten des Landes vor.

Damit will es den seit 2013 regelmäßig aufflammenden Sozial- und Umweltprotesten in den jahrzehntelang systematisch marginalisierten Regionen endgültig den Garaus machen.

Fadenscheinige Terrorismusvorwürfe

Im Oktober 2021 hatte ein Gericht den aus dem südalgerischen Adrar stammenden und seit Juni 2020 inhaftierten Mohad Gasmi wegen Äußerungen in sozialen Medien, in denen er nach Lesart der algerischen Justiz Terrorismus verherrlicht habe, zu fünf Jahren Haft verurteilt. Im Berufungsprozess Anfang Juni war das Strafmaß zwar auf drei Jahre – eines davon auf Bewährung – reduziert worden.



Doch mit dem Urteil wurde im Land nun erstmals ein Umweltaktivist auf der Basis von Terrorismusvorwürfen rechtskräftig für schuldig erklärt.

Die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International, Frontline Defenders und Cairo Institute for Human Rights Studies (CIHRS) kritisierten das strafrechtliche Vorgehen gegen Gasmi in diesem und einem weiteren Prozess, in dem er erstinstanzlich wegen "Enthüllung geheimer Informationen ohne Absicht des Hochverrats oder der Spionage“ zu drei Jahren Haft verurteilt worden war, scharf.

"Gasmi ist eine Bedrohung für das Regime, da er als einflussreicher Aktivist in der Lage ist, die Bevölkerung im Süden Algeriens zu einer Vielzahl von Themen zu mobilisieren – von bürgerlichen und politischen Rechten bis hin zu sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Anliegen“, erklärt Nadège Lahmar vom CIHRS-Büro in Tunis gegenüber Qantara.de. Er habe verstanden, dass diese Themen untrennbar miteinander verbunden sind und wie wenige andere in sein Handeln integriert, so die Menschenrechtlerin.

Soziale Bewegungen im Visier der Behörden

In den 2010er Jahren hatte sich Gasmi der Arbeitslosenbewegung in Südalgerien und dem Comité national pour la défense des droits des chômeurs (CNDDC) angeschlossen. Er beteiligte sich an Protesten, bei denen eine Neuverteilung von Reichtum sowie neue Jobs und Investitionen in marginalisierten Regionen gefordert wurden. Epizentrum der Proteste waren die Provinzen Ouargla, Ghardaïa und Adrar – allesamt Orte nahe der beiden wichtigsten Öl- und Gasfördergebiete Algeriens Hassi R‘Mel und Hassi Messouad, die im Gegensatz zu den Küstenprovinzen von Erlösen aus dem Öl- und Gasexport praktisch ausgeschlossen blieben.

Schon damals ging das Regime mit Verhaftungen und Einschüchterungen gegen die Bewegung vor. Als ernsthafte Bedrohung für den Status quo wurde sie von den Eliten in Algier jedoch offenbar erst wahrgenommen, nachdem sie sich 2014 mit der Anti-Fracking-Bewegung solidarisiert hatte.

Proteste gegen Fracking im algerischen In Salah; Foto: Bilal Bensalem/ABACAPRESS.com
Lokaler Aufstand gegen Umweltzerstörung und autoritäre Bevormundung: In der knapp 30.000 Einwohner zählenden Wüstenstadt Ain Salah protestieren Menschen 2015 gegen Fracking. Die Proteste waren ausgebrochen, nachdem die Regierung angekündigt hatte, mittels des extrem klima- und umweltschädlichen Frackings Schiefergas fördern zu wollen. Schnell breiteten sich die Anti-Fracking-Proteste in Zentralalgerien aus. Das Regime reagierte mit Repressalien auf die massive Mobilisierung. Zwar stoppte Sonatrach 2016 die Erkundungsarbeiten in In Salah. Es gilt aber als sicher, dass das Regime früher oder später erneut versuchen wird, die enormen Schiefergasreserven anzuzapfen.



Unmittelbar nachdem die Regierung angekündigt hatte, mittels des extrem klima- und umweltschädlichen Frackings Schiefergas fördern zu wollen, waren in In Salah in Südalgerien tausende Menschen auf die Straßen gegangen – unter aktiver Beteiligung der Arbeitslosenbewegung. Schnell breiteten sich die Anti-Fracking-Proteste in Zentralalgerien aus. Das Regime reagierte mit Repressalien auf die massive Mobilisierung. 2015 wurden 16 Menschen wegen Beteiligung an den Protesten zu Haftstrafen von bis zu zwei Jahren verurteilt, darunter auch CNDDC-Mitglieder.

Proaktive Repressalien in Südalgerien

Zwar stoppte Sonatrach 2016 die Erkundungsarbeiten in In Salah. Regierungsoffizielle äußerten sich seither aber wiederholt widersprüchlich zu den Plänen der Behörden. Zuletzt hatte Energieminister Arkab erklärt, man sei beim Thema Schiefergas erst in der Evaluationsphase und habe noch ausreichend konventionelle Gasreserven. Es gilt aber als sicher, dass das Regime früher oder später erneut versuchen wird, die enormen Schiefergasreserven anzuzapfen.

Doch dafür – das hat das Regime nach den Anti-Fracking-Protesten von 2015 und dem landesweiten Massenaufstand der Protestbewegung Hirak in 2019 gelernt – muss es soziale Bewegungen in den Fördergebieten in Schach halten und vor allem verhindern, dass diese erneut überregional agieren und sich miteinander solidarisieren.

Das jüngste Vorgehen der Justiz gegen Gasmi – einem der in Algerien bekanntesten Aktivisten von CNDDC und Anti-Fracking-Bewegung – steht ganz im Zeichen dieser Strategie. Denn während der Hirak angesichts heftiger Repressalien und der Pandemie vorerst demoralisiert aus dem öffentlichen Raum verschwunden ist, brachen 2021 in Ouargla erneut Großproteste der Arbeitslosenbewegung aus. Die Verurteilung Gasmis und anderer Aktivisten der Bewegung wie Ameur Gherrache und Sofian Hamdat zeigen: Das Regime will im Süden mit Gewalt für Ruhe sorgen und statuiert dazu Exempel.

 

Algerien instrumentalisiert den Ukraine-Krieg

Nach der Corona-Krise spielt nun auch der Ukraine-Krieg Algeriens Regime in die Hände, kann es den Konflikt doch innen- wie außenpolitisch instrumentalisieren. Das Regime scheint den Krieg und den globalen Energiebedarf noch stärker dafür auszunutzen, um im Inland Repressalien gegen Hirak und inzwischen gar jedwede unabhängige Stimme in aller Stille zu intensivieren, sagt Menschenrechtlerin Lahmar vom CIHRS. In Sachen Energiediplomatie mit Europa setzt Algier derweil auf eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche.

Nach Spaniens provokanter Anerkennung der völkerrechtswidrigen Ansprüche Marokkos auf die seit 1975 durch Rabat besetzte Westsahara, deren Unabhängigkeit Algerien unterstützt, reagierte Algier mit einer klaren Absage in Richtung Madrid, zusätzliches Gas zu liefern. Stattdessen signierte das Regime einen neuen Gasdeal mit Italien.

Auch Deutschland will in Algeriens Energiesektor stärker mitmischen und zeigt nicht nur Interesse an grünem Wasserstoff, sondern auch an Flüssiggas. Mitte Juni 2022 reiste die Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Katja Keul, nach Algier und bot der Regierung eine noch engere Kooperation im Energiesektor an. Inwiefern die Grünenpolitikerin die Repressalien gegen Umweltaktivisten und die Verurteilung von Mohad Gasmi auf Grundlage von Terrorismusanschuldigungen bei ihren Bemühungen, die Energiekooperation mit Algier auszuweiten, berücksichtigt, bleibt unklar. Auf eine Parlamentarische Anfrage des Abgeordneten der Linkspartei, Alexander Ulrich, im Deutschen Bundestag zum Fall Gasmi antwortete das Auswärtige Amt betont ausweichend.

Sofian Philip Naceur

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