Düstere Vorahnung
Basma Abdel Aziz, Journalistin und Psychiaterin, hat nach ihren Sachbüchern "Beyond Torture" ("Jenseits der Folter") und "The Temptation of Absolute Power" ("Die Versuchung der absoluten Macht") mit "The Queue" ihren ersten Roman geschrieben. Ihre detaillierten Betrachtungen der Macht, des Schmerzes und der ägyptischen Gesellschaft insgesamt fasst sie in einem bemerkenswerten Erstlingswerk zusammen, das von Elisabeth Jaquette hervorragend aus dem Arabischen ins Englische übertragen wurde.
"The Queue" kam erstmals 2013 auf den arabischen Buchmarkt, noch vor der Machtergreifung Abdel Fattah al-Sisis in Ägypten. Aber seit seiner Veröffentlichung hat das Buch sogar noch an Relevanz gewonnen. Die Geschichte findet in einem namenlosen Land statt, bei dem es sich jedoch zweifelsfrei um Ägypten handelt. Sie vermittelt ein nuanciertes, „mahfusisches Gefühl“ für das Leben und die Hoffnungen der Ägypter. Auch wenn viele Charaktere in dem Roman in Erscheinung treten, so trägen doch alle Protagonisten sehr individuelle Züge. Die meisten von ihnen stehen in einer kilometerlangen Warteschlange vor einem Regierungstor, das sich ihnen jedoch niemals öffnen wird.
Dieses "Tor" wurde nach den sogenannten "schändlichen Ereignissen" errichtet, einer Massenhinrichtung von Zivilisten durch die Sicherheitskräfte des Landes. Es wurde gebaut, um die Wut und die Trauer der Öffentlichkeit zu unterdrücken. Das namenlose Regime verpflichtet seine Bürger dazu, sich dort verschiedene Papiere abstempeln zu lassen. Im Mittelpunkt des Romans steht ein schweigsamer Mann namens Yahya Gad El-Rab Said, der die Erlaubnis der Wächter des "Tores" braucht, um sich eine – während der "schändlichen Ereignisse" abgefeuerte – Regierungskugel aus seinem Becken entfernen zu lassen.
Wie in "1984" besteht eine zentrale Waffe der Regierung in ihrer Kontrolle über die Geschichte. Allerdings unterscheidet sich "The Queue" insofern deutlich von "1984", als dass in dem Roman kein futuristisches Szenario entworfen wird. Die Aussagen der ägyptischen Regierung zum Tod von Schriftstellern, Aktivisten und Wissenschaftlern wie Shaimaa al-Sabbagh oder Giulio Regeni sprechen den Opfern ebenso Hohn wie diejenigen in "The Queue".
Aus der Perspektive des "Ibn baladi"
"The Queue" wird aus der Perspektive der normalen Ägypter erzählt. Was jenseits der von der Regierung errichteten Grenze geschieht, erfahren wir nicht. Aber diese normalen Bürger nehmen die von der Regierung präsentierten "Tatsachen" keineswegs mit stoischer Gelassenheit hin.
Während sie in der Schlange stehen, sind sie ständig beschäftigt: Sie arbeiten aktiv mit dem Staat zusammen, predigen auf der Straße, schreiben revolutionäre Pamphlete, sammeln Geld, suchen nach Informationen oder beteiligen sich an Protesten.
Yahya ist einer von ihnen. Sein Protest besteht schlicht darin, zu überleben. Dass er in der Warteschlange steht und langsam verblutet, ist immerhin ein Beweis dafür, dass die Polizei während der "schändlichen Ereignisse" tatsächlich auf die Bürger geschossen hat.
Er möchte die Kugel in einem privaten Krankenhaus entfernen lassen, aber den Ärzten hat der Staat ausdrücklich verboten, ohne offizielle Genehmigung Kugeln zu entfernen. Bald darauf verbietet die Regierung Röntgenaufnahmen, später sogar den Besitz von Röntgengeräten. Aus allen Kliniken, mit Ausnahme des Polizeikrankenhauses, werden die Kopien verdächtiger Röntgenbilder entfernt.
Der Arzt, der Yahya als erster behandelt, hegt den verzweifelten Wunsch, dessen Kugel zu entfernen und Yahyas Leben zu retten. Deswegen bekommt er sogar Albträume. Aber er hat auch Angst vor dem Staat und kapituliert.
Netzwerk der Tyrannen
In ihrem packenden Roman nimmt Abdel Aziz nicht nur die Machtmechanismen eines autoritären Staatswesens unter die Lupe. Neben der Armee und den Politikern sind auch religiöse und wirtschaftliche Kräfte in das repressive Netzwerk verstrickt. Während Yahya langsam verblutet, erlässt der "Hohe Scheich" des Staates eine Verfügung, dass "wahre Gläubige" Gewehrkugeln so akzeptieren müssen, als kämen sie von Gott selbst. "Er muss erkennen, welches Glück er hat, von einer Kugel getroffen worden zu sein und dadurch einen Platz im Himmel zu bekommen, der sonst nur den Gehorsamsten vorbehalten ist", so der religiöse Würdenträger.
Der "Hohe Scheich" unterstützt auch die sogenannte "Violette Telekom", ein Unternehmen, das gemeinsam mit dem Staat die Mobilfunknutzer abhört, die in der Schlange stehen. Eine seiner Fatwas verbietet die Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Interessen des Landes: "Gläubige dürfen ihre Brüder weder boykottieren noch ihnen finanzielles oder emotionales Leid zufügen…außer wenn dies der Unterstützung der Religion dient".
Aber es sind nicht nur die "großen Tiere", die die Bürger kontrollieren. Die staatliche Unterdrückung wird auch durch das traditionelle patriarchalische Sozialverhalten unterstützt. Eine Lehrerin namens Ines sagt zunächst offen ihre Meinung und schließt sich den "kurzhaarigen Frauen" sowie anderen Rebellen an. Als aber nach und nach immer mehr Menschen aus der Schlange verschwinden, bekommt Ines Angst und findet in einer von Männern dominierten Gemeinde konservativer Muslime Sicherheit.
Bemerkenswerte Frauenporträts
"The Queue" sticht nicht zuletzt mit seinen detaillierten Frauenporträts - wie das von Ines - hervor. Eine weitere Romanfigur, Umm Mabrouk, arbeitet als Putzfrau, bevor sie sich in die Warteschlange einreiht, um dort ihr Leben zu verbringen. Sie wird schließlich zu einer geschickten Händlerin, die ihren Mitwartenden Tee und Mahlzeiten verkauft.
Manchmal kann sich Umm Mabrouk für die konservativen Predigten begeistern. Doch sie bleibt eine komplexe Person, die auch nach ihren eigenen Überzeugungen und persönlichen Loyalitäten handelt. Einige Male wurde ihr von einem konservativen Prediger empfohlen, "sich von der [kurzhaarigen] Frau zu distanzieren und ihr keinen Ort für ihre Treffen zur Verfügung zu stellen, und als sie ihm nicht gehorchte, brachte er Schimpf und Schande über sie und befahl ihr, die Frau hinauszuwerfen. Doch Umm Mabrouk – die das Geld für die Behandlung ihrer Tochter beinahe beisammen hatte – blieb unerschütterlich, stellte sich ihm ohne Scham entgegen und weigerte sich, ihre neue Freundin im Stich zu lassen".
Trotz der düsteren Zukunftsperspektiven ist die Grundaussage in "The Queue" letztlich optimistischer als in "1984" oder in der "Kairo-Triologie". Auch wenn mindestens eine Hauptfigur durch die Geschichtsfälschung des Staates ihr Selbstgefühl verliert, geben andere Personen mit ihrer positiven und unabhängigen Art dem Buch eine Bedeutung.
Es ist sehr zu bedauern, dass die Jury des Internationalen Preises für Arabische Belletristik diesen Roman im Jahr 2013 nicht berücksichtigt hat, ebenso wenig wie das "Book of Safety" ("Buch der Sicherheit") von Yasser Abdelhafez. Hoffentlich begehen die Preisverleiher im englischen Sprachraum mit der exzellenten "The Queue"-Übersetzung von Jaquette nicht den gleichen Fehler.
Marcia Lynx Qualey
© Qantara.de 2016
Übersetzt aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Basma Abdel Aziz: "The Queue", aus dem Arabischen von Elisabeth Jaquette, Verlag Melville House, New York 2016, 224 Seiten, ISBN: 978161219516