Gezielte Angriffe auf zivile Ziele?
Bis Anfang Januar 2022 versorgte die Wasserpumpstation im Dorf Arshani im Nordwesten Syriens rund 225.000 Menschen, darunter auch Bewohner der Stadt Idlib. Dann wurde sie bombardiert. In dem Gebiet leben rund 2,8 Millionen Personen. Etwa 1,7 Millionen von ihnen sind Binnenvertriebene oder -flüchtlinge, die nicht in ihre alte Heimat zurückkehren, weil sie nicht unter dem Regime des syrischen Diktators Baschar al-Assad leben können oder wollen.
Viele dieser Menschen leben in Zeltstädten, die rund um Idlib entstanden sind. Drei Viertel der Bevölkerung sind der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zufolge auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Idlib wird heute größtenteils von islamistischen Milizen kontrolliert, die gegen das Assad-Regime kämpfen. Die syrische Armee und ihre russischen Verbündeten betrachten diese als militärische Gegner. Allerdings weist die auf die Dokumentation möglicher Kriegsverbrechen spezialisierte Menschenrechtsorganisation Syrian Archive darauf hin, dass sich die Wasserpumpstation in erheblicher Distanz zu Orten befinde, die als militärische Ziele in Frage kämen.
"Das Dorf liegt mitten im Nirgendwo", sagt Hamoud, der für den Bericht verantwortliche Autor bei Syrian Archive. Seinen vollen Namen will er aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht sehen.
Rekonstruktion einer Attacke
Über den Angriff vom 2. Januar hatten zunächst andere Medien berichtet. So zitierte die Nachrichtenagentur Reuters Aussagen von Augenzeugen, denen zufolge russische Kampfflugzeuge die Wasserpumpstation bombardiert hätten.
In ihrem am 15. Februar veröffentlichten Bericht überprüft das Syrian Archive diese Berichte anhand von Flugaufzeichnungen aus unterschiedlichen Quellen. Aus diesen geht hervor, dass sich zum Zeitpunkt des Angriffs tatsächlich ein russisches Flugzeug, aller Wahrscheinlichkeit nach eine Su-34 der russischen Luftwaffe, in dem Gebiet befand.
Mit Hilfe von Open-Source-Verifizierungstechniken und fast 100 visuellen Indiz- und Beweisstücken, darunter Videos und Bildern, gelang es, ein genaueres Bild von den Ereignissen dieses Tages zu erstellen. Demnach wurden zwei Bomben abgeworfen. Dabei wurde ein Mitarbeiter der Pumpstation verletzt, die Station selbst stark beschädigt.
Eine Bitte der Deutschen Welle um Stellungnahme ließen das russische Verteidigungsministerium und die russische Botschaft in Damaskus unbeantwortet.
"Mehr als ein Angriff"
Es sei anzunehmen, dass der Angriff auf die Infrastruktur, in diesem Fall die Wasserpumpstation, eine Taktik darstellt, um die Zivilbevölkerung unter Druck zu setzen oder sie zu zwingen, das Gebiet zu verlassen, sagt Haneen, die für den Bericht zuständige Projektleiterin des Syrian Archive, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Auch sie möchte ihren vollständigen Namen aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht sehen.
"Es ist mehr als ein Angriff", sagt Haneen. "Eine Attacke wie diese hat erhebliche negative Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in dem Gebiet." Angriffe dieser Art würden die ohnehin schon schwierige humanitäre Lage der vertriebenen Menschen in Idlib zusätzlich verschlimmern.
Geflügelfarmen im Visier
Dass die Bombardierung einer zivilen Anlage im Januar kein Einzelfall ist, bestätigte vor kurzem das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA). "Anfang 2022 gab es vermehrte Luftangriffe auf Infrastruktur, einschließlich landwirtschaftlicher Betriebe und Wasserpumpstationen", so UNOCHA in einem seiner jüngsten Lageberichte.
Auch die syrische Zivilschutzgruppe - besser bekannt als Weißhelme - informiert in einem Lagebericht vom 5. Januar über Angriffe russischer Kampfflugzeuge gegen Versorgungseinrichtungen. Diese hätten unter anderem auch Geflügelfarmen ins Visier genommen.
Dem Bericht der Weißhelme zufolge kam es zwischen dem 11. November 2021 und dem 4. Januar 2022 zu Luftangriffen auf insgesamt sieben Farmen in der Region. Auf den meisten dieser Farmen wurden Hühner gezüchtet, auf einer auch Rinder. Bei den Angriffen wurden laut den Weißhelmen acht Zivilisten getötet, elf weitere wurden verletzt. Zehntausende Hühner starben.
Die Bombardierung dieser Farmen bedrohe das Einkommen hunderter Familien, schreiben die Weißhelme in ihrem Bericht. Zudem führe die Zerstörung landwirtschaftlicher Einrichtungen zu einem allgemeinen Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel. Millionen vertriebener Syrer in der Region, viele von ihnen ohne Arbeit, könnten sich diese ohnehin kaum mehr leisten.
Dutzende Angriffe auf die Infrastruktur
Nicht zum ersten Mal wurden während des Syrienkriegs Einrichtungen der zivilen Infrastruktur attackiert. Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International und Human Rights Watch, verzeichneten während der im April 2019 gestarteten syrisch-russischen Militärkampagne zur Rückeroberung der von der Opposition gehaltenen Gebiete rund um Idlib Dutzende von Angriffen auf entsprechende Einrichtungen.
Ins Visier gerieten Schulen, Krankenhäuser und Märkte, auch mehrere Angriffe auf Wasserpumpstationen und Wassertanks wurden registriert. Schätzungsweise 1600 Zivilisten wurden getötet.
Angriffe auf Brunnen oder Hühnerfarmen könnten zukünftig womöglich als Kriegsverbrechen verfolgt werden. Das humanitäre Völkerrecht verbietet jedenfalls vorsätzliche Angriffe auf zivile Einrichtungen. Zu diesen zählen auch Wasserpumpstationen.
Mögliche Kriegsverbrechen
Dieses völkerrechtliche Verbot dürfte vermutlich auch für die Farmen in Idlib gelten, so Anne Schroeter, Rechtsforscherin und Projektkoordinatorin am Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) in Berlin.
"Wenn es sich bei diesen Farmen tatsächlich um zivile Objekte oder Einrichtungen der Infrastruktur handelt - und sie nicht für militärische Zwecke genutzt wurden -, dann könnten derartige Angriffe als Kriegsverbrechen gelten", so Schroeter. So würden Fachleute beispielsweise auch die jüngsten Angriffe der von Saudi-Arabien geführten Militärkoalition auf Farmen, Fabriken und Lagerhäuser im Jemen weithin als mögliche Kriegsverbrechen einschätzen.
Juristisch komme dem Bericht des Syrian Archive allerdings nur ein begrenzter Wert zu. Zwar könnte er dazu beitragen, Strafverfolgungsbehörden zu ermutigen, sich ein mögliches Kriegsverbrechen genauer anzusehen. Allerdings reiche er nicht aus, um darauf einen ganzen Prozess zu gründen, so Schroeter. "Berichte dieser Art sind zwar hilfreich, doch müssen sie durch zusätzliches Material ergänzt werden."
Die Ermittler von Syrian Archive werden ihren jüngsten Bericht nun in ihre eigene Syrien-Datenbank einfügen, die bereits rund 3,5 Millionen Videos enthält. Projektleiterin Haneen hofft, dass diese Arbeit künftig auch dazu beitragen kann, Angriffe auf Zivilisten oder zivile Ziele zu verhindern oder zumindest zu erschweren.
© Deutsche Welle 2022
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.