Der Vormarsch der Dizi
Als Pakistans Premierminister Imran Khan diesen Frühling an sein Volk appellierte, sich die Fernsehserie “Auferstehung: Ertuğrul” anzuschauen, weil sie beispielhaft islamische Werte verkörpere, wusste er nicht, welche Massenbewegung er damit lostreten würde.
Auf Anweisung des Premierministers begann der Staatssender PTV pünktlich zu Beginn des Ramadan am 25. April, die türkische Geschichtsshow in einer Urdu-Synchronfassung auszustrahlen. So hielten Ertuğruls Schlachten und sein Liebesleben — einst für das türkische Publikum gedacht — Einzug in Millionen von pakistanischen Haushalten. Dort wurden die dramatischen Geschichten wochenlang von ganzen Familien konsumiert, trotz mitunter äußerst ruppiger Kampfszenen.
Die Produktion erreichte bis in die letzte Ramadanwoche einen Monat später über 130 Millionen Zuschauer in dem südasiatischen Land. Auch auf dem Youtube-Kanal von PTV bekam “Ertuğrul” millionenfache Klicks. Die Serie “Auferstehung: Ertuğrul” ist eine Art türkische Version von “Games of Thrones” und basiert auf dem Leben von Ertuğrul Gazi, Vater von Osman, dem Gründer des sechs Jahrhunderte überdauernden Osmanischen Reiches.
“Ertuğrul” besteht aus fünf Staffeln und ist eine der türkischen TV-Serien, die es in den letzten Jahren zu internationalem Ruhm gebracht haben. Die Gründe dafür, warum "Ertuğrul" in Pakistan so erfolgreich ist, reichen jedoch weiter als bis zur Langeweile während des Corona-Lockdowns.
Eine Serie für islamische Befindlichkeiten
Eine Erklärung ist, dass “Ertuğrul” dem pakistanischen Publikum endlich eine aufwendig produzierte Alternative zu Hollywood und Bollywood geboten hat; zwei Industrien, derer viele Zuschauer im Land überdrüssig geworden sind. Pakistanis können sich mit den Charakteren des Dramas leichter identifizieren als mit den glamourösen Stars aus Amerika: Vom Heldentum des virilen Kämpfers, der aus seinem Glauben Tapferkeit und Standhaftigkeit schöpft, bis hin zur bunt bestickten Kleidung der Schauspielerinnen, die traditionellen Trachten in der südwestpakistanischen Provinz Belutschistan ähnelt.
Vor allem jedoch spricht die Serie die islamischen Empfindlichkeiten einer Mehrheit der Pakistanis an. Sie identifizieren sich bereitwillig mit dem religionskonformen Verhalten der Protagonisten, was jedoch hinterher zu kuriosen Kontroversen führte: Die 27-jährige Esra Bilgiç spielt in der Serie Halime Hatun, die treue Frau an der Seite von Ertuğrul. Verzaubert von Bilgiçs Schauspielkünsten begannen pakistanische Männer, ihr auf Instagram zu folgen. Bald aber waren sie enttäuscht herauszufinden, dass sich Bilgiç in ihrem echten Leben ganz anders verhält als eine gesittete Frühosmanin aus dem 13. Jahrhundert.
Anzügliche Fotos im Bikini? Ob sich das denn für eine muslimische Frau gehöre? Wie Aimun Faisal in ihrem Kommentar “Ertugrul, Esra Bilgic and the frustrations of Pakistani men” bei der Tageszeitung “The Dawn” bemerkt, brachte Bilgiç die paradoxe Spaltung in den Köpfen pakistanischer Männer zum Ausdruck. Auf der einen Seite stehen jene dunkelhäutigen, muslimischen Frauen, die den religiösen Gesetzen folgen sollen und auf der anderen begehrenswerte weiße Frauen aus dem Ausland, die sich verlockend, aber eben verboten verhalten. Mit Bilgiç stießen sie plötzlich auf eine Person, in der beide Frauenmodelle zusammenfielen.
„Ertuğrul“ wurde in Pakistan gleichzeitig zu einer Projektionsfläche für das panislamische Heraufbeschwören einer transnationalen muslimischen Schicksalsgemeinschaft. Dabei spiegelte sich die Sehnsucht des als Terrorstaat verkannten Pakistan nach kulturhistorischer Größe wieder, wie sie etwa in den Gedichten des Nationalpoeten Muhammad Iqbal zur Geltung kommt. Dazu passt auch die Beliebtheit des türkischen Präsidenten Erdoğan unter Pakistanis.
Der türkische Präsident wird seit Jahren als starker muslimischer Führer verehrt, der sich für die Belange unterdrückter Muslime unter den Rohingya in Myanmar, in Kaschmir oder Palästina stark macht.
"Ertuğrul"-Fans wurden in pakistanischen Medien nicht müde, auf historische Schnittpunkte zwischen den Pakistan und der Türkei zu deuten, allem vorweg auf die Khilafat-Bewegung, eine politische Strömung unter den Muslimen Britisch-Indiens, die das osmanische Kalifat nach dessen Zerschlagung wiederbeleben wollte.
Selbst der venezolanische Präsident Nicolas Maduro hatte 2018 das Set von “Ertuğrul” besucht. Die Serie steht symbolisch für die Bestrebungen der Türkei, sich als “Soft Power” jenseits der kulturellen Macht des Westens zu positionieren. Dafür eröffnet die Türkei seit 2007 vor allem in muslimischen Ländern Zweigstellen des Yunus-Emre-Instituts zur Förderung der türkischen Sprache und Kultur.
Doch die schlagkräftigste Waffe ist zweifellos türkische Fernsehkultur: Die Türkei ist inzwischen zum zweitgrößten Exporteur von TV-Serien nach Hollywood avanciert. Wie kam es zu diesem Aufstieg?
Ein eigenes Genre mit türkischem Stil
In der Türkei heißen Fernsehserien “dizi”. Sie bilden ein eigenes Genre, das sich eines typisch türkischen, theatralischen Stils sowie hausgemachter Narrative und Soundtracks bedient. In einer typischen “dizi” gibt es häufig dutzende Protagonisten, wobei zumeist die glitzernden Seiten von Istanbul als Kulisse dienen, mit Bosporusfront, schmucken Autos und modernen Großstadtappartements in angesagten Szenevierteln. Viele der Produktionen sind klassische Seifenopern oder leichtfüßige Comedy-Serien, die das Leben und Lieben der urbanen oberen Mittelschicht porträtieren.
Anders als US-amerikanische Serien jedoch, so wird oft bemerkt, feiern türkische Produktionen nicht Lebensmodelle wie Individualismus und Promiskuität, sondern basieren auf traditionellen Familienentwürfen und islamkonformen sozialen Beziehungen.Türkische TV-Shows sind seit Jahren international erfolgreich, besonders auf dem Balkan und in den Golfstaaten, aber auch in Ländern wie Russland, China und Korea. Selbst in Südamerika gibt es einen großen Absatzmarkt mit Chile an erster Stelle, neben Mexiko und Argentinien.
Während sich die Affinität lateinamerikanischer Zuschauer mit kulturellen Ähnlichkeiten erklären lässt, schlägt sich im Erfolg der Dizi in arabischen Ländern die Sehnsucht nach einem liberaleren Lebensstil auf Grundlage der islamischen Kultur nieder: Die Schauspieler in modernen türkischen Serien küssen sich öffentlich und trinken Alkohol, respektieren jedoch ihre Eltern und gehen zum Beten in die Moschee.
Der internationale Aufstieg der türkischen Serien begann im Jahr 2006 mit der Produktion “Binbir Gece” (1001 Nacht), die in über siebzig Ländern zum Quotenkiller wurde. Selbst in Israel, das seit Jahren angespannte Beziehungen zur Türkei unterhält, hatte die Serie viele Fans. Doch der bislang unumstrittene Kassenschlager ist das Osmanen-Drama “Muhteşem Yüzyıl” (“Das Glorreiche Jahrhundert”), das sich um die Liebesgeschichte zwischen Sultan Süleyman dem Prächtigen und Hürrem Sultan, einer Konkubine ukrainischer Abstammung, dreht. “Muhteşem Yüzyıl” war wie “Ertuğrul” eine Produktion der Superlative: Allein 25 Personen waren nur mit dem Design von historischen Kostümen beschäftigt.
Arabische Serientouristen in Istanbul
Zwar stellte sich Präsident Erdoğan damals gegen “Muhteşem Yüzyıl”, da die Serie in seinen Augen die osmanische Geschichte verfälschte — in der Folge nahm die staatliche Luftfahrtgesellschaft Turkish Airlines “Muhteşem Yüzyıl” sogar aus ihrem Inflight-Unterhaltungsprogramm. Dennoch wurde das Drama zum Symbol für den Neo-Osmanismus unter der AKP-Regierung. Es wird geschätzt, dass “Muhteşem Yüzyıl” weltweit eine halbe Milliarde Zuschauer hatte.
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Die Serie lohnte sich für die Türkei nicht nur wegen ihrer hohen Einspielergebnisse. Die Zahl arabischer Touristen in Istanbul ging durch das Drama so sehr durch die Decke, dass das türkische Kultur- und Tourismusministerium arabischen Staaten zeitweise die Sendegebühren für die Serie erließ.
In manchen Teilen der arabischen Welt jedoch bildete sich über die Jahre auch politischer und religiöser Widerstand gegen die türkische Serienkultur. Erst im vergangenen Februar warf der “Hohe Fatwarat” (Dar Al-Iftaa) in Ägypten der Türkei vor, dass sie sich mit ihren TV-Produktionen im Mittleren Osten ein “Einflussgebiet” schaffen und im Rahmen einer neu-osmanischen Herrschaft erneut Macht über die arabischen Länder ausüben wolle.
Als Beispiel für die Behauptung wurde “Ertuğrul” angeführt. Im Statement des Fatwarats heißt es in Anspielung auf die Regierung Erdoğan: “Sie exportieren die Vorstellung, sie seien als Anführer des Kalifats dafür verantwortlich, Muslime weltweit vor Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu retten, während sie gleichzeitig das islamische Recht umsetzen wollen. Sie verheimlichen die Tatsache, dass der Hauptantrieb von Erdoğans Kolonialbestrebungen materielle und politische Gewinne sind.”
Bereits 2018 hatte die von Dubai aus operierende saudische Mediengruppe MBC (Middle East Broadcasting Center) die Ausstrahlung türkischer Serien eingestellt. Dem Vormarsch der Dizi dürfte das jedoch keinen Abbruch bereiten. Nach Planungen des türkischen Filmsektors sollen die Umsätze der Dizi-Industrie schon im Jahr 2023 die Marke von einer Milliarde US-Dollar erreichen.
Marian Brehmer
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