Nicht wie Jasmin
Als im Winter 2010/2011 in Nordafrika breite Protestbewegungen aufkamen, suchten die Medien nach einer Bezeichnung für diese Aufstände. Noch immer sprechen sie von der "Jasmin-Revolution" in Tunesien, vom "Arabischen Frühling" und der "Facebook-Revolution".
Die meisten Beteiligten würden allerdings bezweifeln, dass das Schicksal der Märtyrer, die für die Menschenwürde starben, auch nur annähernd so angenehm wie Jasmin war. Es war auch nicht schön, Opfer von Tränengas und Gummipatronen zu werden. Auch lässt sich der Kampf für Freiheit und Demokratie in der arabischen Welt nicht auf die Jahreszeit "Frühling" reduzieren. Nur wenige Internetaktivisten, die Repression erlitten und fast ihr Leben verloren hätten, meinen, dass tiefgreifende politische und gesellschaftliche Umwälzungen hauptsächlich auf Facebook zurückzuführen sind.
Allerdings ist nicht zu leugnen, dass die sozialen Medien für die Ereignisse relevant waren, die zu dem politischen und sozialen Wandel in Tunesien geführt haben. Im Land hatte es zuvor bereits zwei große Protestbewegungen gegen die Diktatur gegeben: die "Brot-Revolution" im Januar 1984 unter Präsident Habib Bourguiba und den "Aufstand im Gafsa-Bergbaubecken" 2008 unter Präsident Zine el-Abidine Ben Ali. Besonders während des Gafsa-Aufstandes gelang es nicht, die Proteste landesweit zu mobilisieren, so dass die Staatsgewalt ihn leicht niederschlagen konnte.
Kontrollverlust des Regimes
Im Dezember 2010 sah alles anders aus. Informationen, die der Regierung schadeten, verbreiteten sich rasant. Die Behörden konnten die digitale Kommunikation nicht kontrollieren. Nur 28 Tage Massenmobilisierung veränderten das politische Klima in Tunesien vollständig. Das Ben-Ali-Regime, das sich 23 Jahre an der Macht gehalten hatte, stürzte.
Im Winter 2010/11 verbreiteten sich Informationen direkt von lokaler auf internationale Ebene. Die Akteure machten die Werte und Forderungen der Bewegung auf verschiedenen Blogs bekannt, so dass die ganze Welt davon erfuhr. Der kriminelle und unmoralische Charakter des Ben-Ali-Regimes wurde für alle sichtbar.
Vor der Revolution hatten junge Leute Facebook dazu genutzt, persönliche Kontakte zu pflegen. Nun mobilisierten sie Protest via Facebook und waren überrascht, wie effektiv das war. Die sozialen Medien wurden zu einer Alternative zu den Mainstream-Medien, wobei sie nicht nur aktuelle Nachrichten verbreiteten, sondern auch zur Plattform für Diskussionen und für die Organisation kollektiven Handelns wurden.
Werkzeug der Revolutionäre
Heute glauben viele, der Cyberaktivismus habe Ende 2010 begonnen. Damals wurden die Bilder von Mohamed Bouazizi, der sich wegen staatlicher Willkür selbst verbrannt hatte, sowie Videos darauffolgender Proteste und Polizeigewalt im Internet verbreitet. Aber einige Blogger wussten schon lange zuvor, dass die Behörden Angst vor Informationen im Netz hatten. Es hatte zahlreiche Fälle von Blog-Zensur gegeben.
"Zum ersten Mal sah ich die Auswirkungen des Internets bei der Jagd auf Zouhair, seiner Verhaftung, Inhaftierung und dann seinem Tod", erzählt Abdelkarim Ben Abdallah, der seit 2003 seinen Blog Mouse Hunter (http://karim2k.com) veröffentlicht. Zouhair Yahyaoui gilt als erster "Märtyrer der Internetfreiheit" in Tunesien. Er wurde 2002 verhaftet und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er die regierungskritische Internetseite Tunezine (http://www.tunezine.com) betrieb. Während seiner 18-monatigen Haft erlitt er schwere Entbehrungen und wurde gefoltert.
Nach seiner Entlassung starb er am 13. März 2005 an einem Herzinfarkt. 2012 wurde der 13. März daher zum Nationaltag der Internetfreiheit erklärt.Tatsächlich hatte das Regime wiederholt Blogs verboten, Autoren eingeschüchtert und sie juristisch drangsaliert. Die Regierung fühlte sich bedroht und versuchte, Internetinhalte zu beschränken. Die Unterdrückung begann nicht mit der Verhaftung von Slim Amamou am 6. Januar 2011, deren Bekanntwerden der revolutionären Bewegung weiteren Antrieb gab.
Auf einen Blog haben alle Internetnutzer Zugriff, während Social-Media-Plattformen nur registrierten Nutzern vollen Zugang erlauben. Um jemandem auf Twitter oder Facebook zu folgen, braucht man im Zweifel dessen Erlaubnis. Dementsprechend ist es für Regierungen schwieriger – wenn auch nicht unmöglich –, die sozialen Medien zu überwachen. Unter Ben Ali begannen immer mehr Menschen soziale Medien zu nutzen, da der Staat diese nicht komplett überwachte, so dass Facebook dank starker Verbreitung zu einem Werkzeug der Revolutionäre wurde.
Die sozialen Medien ermöglichen es Nutzern, andere auf alle möglichen Sachen im Internet aufmerksam zu machen. Links zu Videoplattformen wie YouTube oder Dailymotion sind sehr beliebt. Beide wurden in der Ära Ben Ali zensiert – nicht zuletzt weil Rap-Musiker sie dazu nutzten, um Arbeitslosigkeit, Korruption und Polizeibrutalität zu thematisieren. Allerdings ist die Meinungsfreiheit weiterhin begrenzt, wie die Rapper Ahmed Ben Ahmed (bekannt als "Klay BBJ"), Ala Yaacoub ("Weld El 15") und Hamada Ben Amor ("El Général") berichten könnten. Sie alle wurden wegen politischer Rap-Songs verhaftet, eingesperrt oder verurteilt. El Général wurde während der Revolution unter Ben Ali eingesperrt, die anderen beiden 2013.
Neuer Alltag
Heute nutzen Leute weiter in der Übergangsphase zu einer neuen politischen Ordnung Blogs, Online-Videos und soziale Medien, um die Politik zu beeinflussen und auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Es hilft, dass immer mehr Menschen das Internet nutzen.
Die Blogosphäre trägt zum politischen Klima bei. Die Unterscheidung zwischen Blogs und sozialen Medien verschwimmt, da viele Autoren mehrere Kanäle nutzen.
Viele Blogger unterrichten Anfänger über den Umgang mit sozialen Medien. Abdelkarim etwa hat seit August 2011 rund 50 Blogging-Workshops geleitet, so dass besonders junge Leute auf dem Land eigene Blogs und Twitter-Accounts eingerichtet haben. Sie lernten auch, wie sie diese für politisches Engagement nutzen können.
Netzaktivismus ist nicht auf Menschenrechtsthemen beschränkt. Wichtige Schlagworte sind "Bürgerjournalismus" und "aktive Bürgerschaft". Menschen nutzen das Internet, um auf wichtige Themen aufmerksam zu machen, Bewusstsein zu wecken und Informationen zu verbreiten.
Einige Cyberaktivisten nehmen die Rolle von Wachhunden ein. Ein bekanntes Beispiel war "Sheraton Gate" Ende 2012. Die Bloggerin Olfa Riahi veröffentlichte eine Reihe von Quittungen aus dem Sheraton Hotel in Tunis. Sie deckte damit auf, dass der damalige Außenminister Rafik Abdessalem vermutlich in einen Seitensprung sowie den Missbrauch öffentlicher Gelder verwickelt war.
Der Minister trat später zurück; sein Fall wird untersucht. Für seine Partei, die islamistische Ennahda, war das ein schwerer Rückschlag. Heute spricht Olfa von einem "gewonnenen Kampf" im "langen Krieg" für demokratische Regierungsführung. Sie lehnt die autoritären Neigungen islamistischer Politiker ab.
Heute ist den Entscheidungsträgern der Parteien und Institutionen die Bedeutung sozialer Medien klar, und viele nutzen sie selbst. Sie wollen damit vor allem – wenn auch nicht nur – junge Leute erreichen. Alle Parteien haben Facebook-Seiten, und fast alle Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens haben Twitter-Accounts.
Die Bedeutung der sozialen Medien für den Sturz der Diktatur sollte nicht überbewertet werden. Ben Ali floh nicht vor Facebook; er floh vor den protestierenden Massen auf den Straßen.
Die sozialen Medien können die Mainstream-Medien nicht ersetzen, die größere technische und personelle Ressourcen für Recherche und Berichterstattung haben. Dennoch sind die sozialen Medien wichtig: Sie bieten Raum für Meinungsaustausch, kritisches Denken und – besonders wichtig – für die Ausübung der Meinungsfreiheit.
Aya Chebbi
© Zeitschrift für Entwicklung & Zusammenarbeit 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de