Die Krise in der Krise

Die Corona-Pandemie hat inzwischen auch Syrien erreicht. Warum das Virus das Bürgerkriegsland äußerst hart treffen könnte und vor allem inhaftierte Menschen gefährdet, erklärt Anna Fleischer.

Von Anna Fleischer

In so gut wie allen Ländern dieser Welt werden Notfallpläne entwickelt und Regierungen versuchen Maßnahmen zu ergreifen, um die Bevölkerung vor einer weiteren Ausbreitung des Corona-Virus zu schützen. Allein das Assad-Regime leugnete noch bis vor wenigen Tagen die Existenz auch nur eines einzigen Falles in Syrien. Die offizielle Nachrichtenagentur SANA gab sogar damit an, dass die WHO dies bestätigt habe.

Am 22. März jedoch hatte das Leugnen ein Ende und der Gesundheitsminister gab den ersten Corona-Fall öffentlich bekannt. Zusätzlich kündigte das Regime an, ab dem 23. März alle Grenzübergänge zum Libanon zu schließen, einschließlich aller zurückkehrenden syrischen Staatsangehörigen. Der Güterverkehr werde mit Fahrern aufrecht erhalten, die medizinischen Kontrollen unterliegen.

Allerdings gibt es begründete Zweifel daran, dass ausgerechnet Syrien von der Ausbreitung des Virus verschont werden sollte. Denn das Assad-Regime wird durch zehntausende iranischer Kämpfer unterstützt, und der Iran ist der einzige Staat in der Region, der derzeit mit über 27.000 Infizierten und rund 2.000 Toten am stärksten von der Corona-Pandemie betroffen ist. Zudem meldeten pakistanische Behörden sechs Corona-Fälle der soeben aus den Regimegebieten zurückgekehrten Kämpfer der Zeinabiyoun-Brigade.

Ein dysfunktionales Gesundheitssystem

Alarmierend ist in diesem Zusammenhang der desolate Zustand des Gesundheitssystems. Laut den Vereinten Nationen haben bis zu 70 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen Syrien verlassen, und Ende letzten Jahres waren nur 64 Prozent der Krankenhäuser und 52 Prozent der Zentren für medizinische Grundversorgung in ganz Syrien voll funktionsfähig. Somit ist das Land auf eine Pandemie besonders schlecht vorbereitet.

Logo der Weltgesundheitsorganisation (WHO); Foto: AP
Bürgerkrieg und Pandemie: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt, das "fragile Gesundheitssystem" in Syrien sei wahrscheinlich nicht in der Lage, mit der Corona-Pandemie im Land fertig zu werden.

Laut Layla Hasso vom syrischen Kinderrechtsnetzwerk Hurras gibt es in Syrien 200 Betten auf Intensivstationen mit Beatmungsgeräten in Gebieten, die nicht vom Regime kontrolliert werden. Diese sind allerdings bereits alle belegt mit Patienten, die nicht mit dem Virus infiziert sind.

Die verspätete und offensichtlich realitätsferne Strategie gegen die Ausbreitung des Coronavirus gefährdet Zivilisten, ob in den vom Regime kontrollierten Gebieten oder andernorts. Der anhaltende Konflikt hat Millionen von Syrern innerhalb der Landesgrenzen zur Flucht gezwungen. Vier Millionen von ihnen harren momentan im Nordwesten des Landes aus, in der Provinz Idlib.

Dort ist in den improvisierten Lagern der Hygienestandard nicht mal im Ansatz vorhanden. "Wir sollen uns die Hände waschen? Manche Menschen hier können ihre Kinder eine Woche lang nicht waschen, sie leben unter freiem Himmel!" sagt der Direktor der Maram Foundation for Relief and Development in Idlib, Fadi Mesaher, der New York Times.

Idlib in der Corona-Falle

Derzeit gibt es in Idlib kaum einmal die Möglichkeit, sich auf Corona zu testen. Proben können zwar an Labore in der Türkei geschickt werden, aber angesichts der verheerenden Zustände, die in den letzten Monaten eine Million Menschen an die Grenze zur Türkei getrieben haben, ist das keine große Hilfe.

Hedinn Halldorrson, ein Sprecher der Weltgesundheitsorganisation in der Südtürkei, erklärte, dass Testkits voraussichtlich erst nächste Woche in Idlib eintreffen werden, auch wenn nicht klar ist, wann genau und wie viele es sein werden. Dass die Kits erst jetzt geschickt werden, liegt laut Halldorrson darin begründet, dass die WHO Testkits an Regierungsbehörden verteilt –  und der Nordwesten kein Land mit Regierung sei.

Flüchtlingslager in Idlib; Foto: picture-alliance/AA
Syriens Flüchtlinge als Hauptleidtragende der Corona-Krise: "Breitet sich das Coronavirus in Syrien weiter aus, werden die ohnehin schon knappen Hilfsgüter und eingeschränkten Dienstleistungen an die Grenze ihrer Kapazitäten gelangen", so die Hilfsorganisation "Care Deutschland". In den überfüllten Camps, die mit mangelnder Hygiene und einer fragilen Gesundheitsinfrastruktur kämpften, könne sich das Virus besonders schnell verbreiten, so die Hilfsorganisation.

Ebenso betont auch Layla Hasso, dass es vor allem an Material mangele, wie Masken, Handschuhen und Desinfektionsmitteln. Außerdem müssten viele der Ärmsten jeden Tag das Haus verlassen, um sich ihren mageren Lebensunterhalt zu verdienen. "Unsere größte Angst gilt momentan den Kindern, deren Familien krank werden könnten. Wer wird sich um diese Kinder kümmern, wenn die Eltern krank sind oder sogar sterben?"

Corona-Gefahr für Menschen in Assads Gefängnissen

Während die Situation für die Binnenflüchtlinge sich also immer weiter zuspitzt, existiert noch eine weitere Gruppe extrem gefährdeter Menschen in Syrien: die Häftlinge in Assads Gefängnissen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch warnt, dass die unmenschlichen Bedingungen in den Haftanstalten des Regimes die Auswirkungen von Corona noch viel schlimmer machen könnten. Durch die schiere Überfüllung, aber auch wegen der unsäglichen hygienischen und medizinischen Bedingungen, könnte sich das Virus dort extrem schnell ausbreiten.

"Besonders erschreckend ist, dass die [syrischen] Behörden sich dieser Verhältnisse bewusst sind, sie sogar selbst herbeigeführt haben, indem sie den Häftlingen angemessene Ernährung, medizinische Versorgung, sanitäre Einrichtungen, frische Luft und Platz verweigern. Dies passt  ins Bild dessen, was wir über die missbräuchlichen Praktiken der syrischen Regierung gegenüber Inhaftierten wissen, einschließlich weit verbreiteter und systematischer Folter, Misshandlung und sexualisierter Gewalt", so Sarah Kayyali von Human Rights Watch in ihrem Statement.

"Heute ist mein Vater seit 2.446 Tage in Assads Gefängnissen eingesperrt. Während ich versuche, mich gegen COVID-19 zu schützen, sind meine Gedanken bei meinem Vater und den Tausenden Gefangenen, die nicht mal ein Minimum an Gesundheitsversorgung haben. Es ist unerträglich", twittert Wafa Moustafa, die Tochter eines politischen Gefangenen.

Today my dad completes 2446 days in Assad detention centers.



While I'm trying to protect myself from COVID-19, I think of my dad and hundreds of thousands of detainees. Those have no access to a minimum level of medical care.



It's unbearable..#Covid_19#free_the_detainees pic.twitter.com/nj3LydThXW

— Wafa Mustafa (@WafaMustafa9) March 12, 2020

Sie selbst hält sich in Berlin auf und hat große Angst vor einen Ausbruch der Pandemie in den syrischen Gefängnissen. Es ist besonders schwierig für die Familien der Gefangenen sich in diesen Tagen versuchen selbst zu schützen, immer mit dem Gedanken an ihre Verwandten und Geliebten, die in unmenschlichen Foltergefängnissen eingesperrt sind.

Hohes Infektionsrisiko

In einem Offenen Brief fordern zivilgesellschaftliche Organisationen und Oppositionsvertreter des Syrischen Verfassungskomitees Zugang zu allen Hafteinrichtungen des syrischen Regimes für das Internationale Rote Kreuz sowie die zuständigen UN-Behörden. Mit der neuen Bedrohung durch COVID-19 besteht für Häftlinge in allen Gefängnissen in Syrien ein weitaus höheres Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren und zu überleben.

Syrien hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und die Arabische Erklärung der Menschenrechte zwar unterzeichnet, allerdings war es nie Mitglied des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen, welcher die Regeln zu den absoluten Grundrechten von Gefangenen formuliert hat. Das syrische Regime sieht sich also noch nicht einmal den Minimalstandards für Gefangene verpflichtet.

[embed:render:embedded:node:39536]Zahlreiche Häftlinge sind bereits durch Folter und anderen Missbrauch, durch Vernachlässigung und Angst um ihre Zukunft geschwächt. Ein Ausbruch des Coronavirus in den Haftanstalten bedeutet für sie daher eine völlige Katastrophe. Laut Amnesty International besteht Anlass zur Besorgnis, dass man infizierte Gefangene quasi vorsätzlich sterben lassen könnte.

"Es ist so, als wäre man lebendig begraben"

Fadwa Mahmoud macht sich deshalb große Sorgen um ihren Sohn Maher und ihren Ehemann. Beide sind seit Jahren verschwunden. Sie wurden 2012 am Flughafen in Damaskus verhaftet, seitdem fehlt jede Spur von ihnen. "Ich weiß wie es in syrischen Gefängnissen ist. Man sieht dort jahrelang keine Sonne und spürt keinen Wind. Es ist so, als wäre man lebendig begraben", sagt sie mit schwerer Stimme – sie war selbst politische Gefangenen in den achtziger Jahren unter Hafiz al-Assad. Auch sie ist mittlerweile geflohen, der Gedanken an eine drohende Pandemie in syrischen Gefängnissen beschäftigt sie sehr.

Die Ankündigung des Regimes, eine weitere, völlig bedeutungslose Amnestie zu erlassen, wie bereits in der Vergangenheit geschehen, muss als geradezu als zynisch gelten. Ob dies eine Reaktion aufgrund der Angst vor COVID-19 darstellt, bleibt unklar. Sarah Kayyali von Human Rights Watch meint: "Humanitäre Organisationen und Organisationen der Vereinten Nationen müssen dringend auf den Zugang zu syrischen Hafteinrichtungen drängen, um für die Inhaftierten lebensrettende Hilfe zu leisten. Die syrische Regierung wird dies aber sicherlich nicht tun."

Anna Fleischer

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