Kein neues "Sykes-Picot"-System
Der russisch-amerikanische Plan, die syrischen Chemiewaffen zu zerstören – der nun Teil der Resolution 2118 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist – könnte einen konstruktiveren Ansatz für die Beendigung des Bürgerkriegs im Land aufzeigen, da der Sicherheitsrat auch fordert, dass die lang geplante zweite Genfer Konferenz über Syrien so bald wie möglich stattfindet. Und das ist richtig so: Die Zerstörung der syrischen Chemiewaffenvorräte und der politische Prozess zur Beendigung des Krieges müssen Hand in Hand gehen.
Illustration by Paul Lachine
Aus praktischen Sicht können Maßnahmen zur Suche, Sicherstellung und schließlich Zerstörung dieser enormen Vorräte chemischer Kampfstoffe nicht ohne einen dauerhaften Waffenstillstand implementiert werden. Aber auch aus anderen Gründen ist es nötig, die beiden Vorgänge zu synchronisieren.
Abgesehen vom menschlichen Leid durch den anhaltenden syrischen Krieg sollten wir uns der Möglichkeit schlimmer regionaler Folgen bewusst sein. Manche warnen vor einer „Libanisierung“ Syriens – die Teilung des Landes in rivalisierende Machtbereiche und quasi unabhängige Regionen. Aber die Fragmentierung Syriens ist nicht das einzige plausible Szenario.
Tatsächlich vermittelt die Libanon-Metapher ein zu positives Bild. Im Gegensatz zur Situation im Libanon während seines 15-jährigen Bürgerkrieges wäre keine heutige Regionalmacht in der Lage, den syrischen Krieg innerhalb seiner jetzigen Grenzen zu halten. Infolge dessen ist es viel wahrscheinlicher, dass bei einer Auflösung Syriens das gesamte nach dem Ersten Weltkrieg entstandene (oder nachottomanische) nahöstliche Staatensystem – auch „Sykes-Picot“-System genannt – auf dem Spiel steht.
Der russisch-amerikanische Plan, die syrischen Chemiewaffen zu zerstören – der nun Teil der Resolution 2118 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ist – könnte einen konstruktiveren Ansatz für die Beendigung des Bürgerkriegs in dem Land aufzeigen, da der Sicherheitsrat auch fordert, dass die lang geplante zweite Genfer Konferenz über Syrien so bald wie möglich stattfindet. Und das ist richtig so: Die Zerstörung der syrischen Chemiewaffenvorräte und der politische Prozess zur Beendigung des Krieges müssen Hand in Hand gehen.
Aus praktischer Sicht können Maßnahmen zur Suche, Sicherstellung und schließlich Zerstörung dieser enormen Vorräte chemischer Kampfstoffe nicht ohne einen dauerhaften Waffenstillstand implementiert werden. Aber auch aus anderen Gründen ist es nötig, die beiden Vorgänge zu synchronisieren.
Abgesehen vom menschlichen Leid durch den anhaltenden syrischen Krieg sollten wir uns der Möglichkeit schlimmer regionaler Folgen bewusst sein. Manche warnen vor einer "Libanisierung" Syriens – die Teilung des Landes in rivalisierende Machtbereiche und quasi unabhängige Regionen. Aber die Fragmentierung Syriens ist nicht das einzige plausible Szenario.
Regionen übergreifende Instabilität
Tatsächlich vermittelt die Libanon-Metapher ein zu positives Bild. Im Gegensatz zur Situation im Libanon während seines 15-jährigen Bürgerkrieges wäre keine heutige Regionalmacht in der Lage, den syrischen Krieg innerhalb seiner jetzigen Grenzen zu halten. Infolgedessen ist es viel wahrscheinlicher, dass bei einer Auflösung Syriens das gesamte nach dem Ersten Weltkrieg entstandene (oder post-osmanische) nahöstliche Staatensystem – auch "Sykes-Picot"-System genannt – auf dem Spiel steht.
Solch eine auf die ganze Region übergreifende Instabilität ist nicht nur ein theoretisches Szenario, sondern folgt aus den tatsächlichen Entwicklungen. Unter dem anhaltenden Druck des syrischen Konflikts beginnen bereits jetzt die bestehenden politischen Konturen des Libanon, sich aufzulösen. Zwischen Baalbek und Homs ist eine Zone entstanden, die de facto unter Kontrolle der libanesischen Hisbollah und syrischen Regierungstruppen steht und die libanesisch-syrische Grenze überspannt.
Ebenso haben die Kämpfe zu großer Unsicherheit in den irakischen und syrischen Gebieten mit kurdischer Mehrheit geführt. Seit dem Sturz von Saddam Hussein hat die Kurdische Regionalregierung (KRG) im nördlichen Irak direkt in der Nähe der Zentralregierung in Bagdad eine autonome Zone geschaffen. Die regionalen und inländischen Entwicklungen könnten die kurdische Führung in Erbil, ihrer Hauptstadt, dazu bringen, ihre formale Unabhängigkeit zu erklären.
Streben nach kurdischer Unabhängigkeit
Angesichts seines zu erwartenden Einkommens aus der Ölförderung und guter nachbarschaftlicher Beziehungen mit der Türkei wäre ein solcher Staat durchaus möglich. In der Tat erklärt die KRG-Regierung bereits seit langem, dass sie die türkische Souveränität respektiert und in die Beziehungen zwischen der türkischen Regierung und ihrer eigenen kurdischen Bevölkerung nicht eingreifen will. Und die KRG versucht, ihre Macht formell und informell nach Nordsyrien auszudehnen, wenn auch nur zu ihrer eigenen Sicherheit.
Die regionale Akzeptanz einer kurdischen Staatenbildung über die heutigen KRG-Grenzen hinaus würde unter anderem vom Ausmaß der kurdischen Nationalbestrebungen abhängen. Aus der Perspektive der Türkei wäre eine Konföderation der nordöstlichen Region Syriens mit der KRG möglicherweise wünschenswerter als weitere kurdische Unruhen im eigenen Land, ganz zu schweigen von einer Regierung der antitürkischen Kurdischen Arbeiterpartei entlang der syrischen Grenze.
Andererseits würde jeder Versuch der KRG, einen kurdischen Korridor zum Mittelmeer zu schaffen, sicher auf Widerstand stoßen – nicht nur von türkischer Seite, sondern auch von anderen kriegsführenden Parteien in Syrien.
Was allerdings würde eine kurdische Unabhängigkeit für den Rest des Irak bedeuten? In dieser Frage geht es nicht nur um Land, Grenzen oder Öl, sondern auch um die nationale Machtverteilung. Da mit einem Ausstieg der Kurden das dritte Element der irakischen Politik – neben schiitischen und sunnitischen Arabern – entfallen würde, würden sich die sektiererischen Spaltungen im Land wahrscheinlich vertiefen.
Darüber hinaus könnte eine kurdische Unabhängigkeit in den Provinzen mit sunnitischer Mehrheit an der Grenze zu Syrien, Jordanien und Saudi-Arabien den Drang nach Autonomie verstärken – eine dritte Region, wo der syrische Bürgerkrieg zur Auflösung internationaler Grenzen beiträgt. Die sozialen, wirtschaftlichen und Stammesverbindungen zwischen den Provinzen Deir ez-Zor in Syrien und Anbar im Irak sind stark und haben sich im Zuge des Kontrollverlusts der syrischen und irakischen Regierung noch verstärkt.
Unrealistische Erwartungen
Erstaunlich viele regionale Beobachter scheinen zu erwarten, hoffen oder fürchten, dass solche Entwicklungen irgendwie fast automatisch zu einem "neuen Sykes-Picot" führen würden – also zu einer neuen, von den heutigen Großmächten geschaffenen regionalen Ordnung im Nahen Osten. (Eine Google-Suche nach "neues Sykes Picot" auf arabisch führt zu 52.600 Ergebnissen.)
Solche Erwartungen sind ganz offensichtlich unrealistisch. Die Europäer und Amerikaner haben gelernt – und China, Russland und andere haben aus der westlichen Erfahrung gelernt – dass politische Strukturen oder regionale Ordnung im Nahen Osten nicht durch externe Mächte hergestellt werden kann.
Anstatt neue Grenzen zu planen oder zu entwerfen, müssen die regionalen und externen Mächte ihre Bemühungen darauf richten, Syrien zusammenzuhalten. Die geplante Genfer Konferenz ist ein notwendiger Schritt in diese Richtung.
Sicherlich gibt es viele Gründe, die Bereitschaft der syrischen Kriegsparteien, ernsthafte Verhandlungen zu führen, mit Pessimismus zu betrachten. Tatsächlich kann niemand – weder Russland, die USA, der Iran, Saudi-Arabien, noch andere externe Schutzmächte entweder des Regimes oder der Opposition – garantieren, dass die Genfer Konferenz erfolgreich sein wird. Aber sie alle können die Bedingungen für Verhandlungen verbessern, indem sie ihren jeweiligen syrischen Schützlingen eine Botschaft in dem Sinne schicken, dass sie einen Sieg einer Seite über die andere ausschließen.
Also müssen Russland und der Iran dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad mitteilen, dass sie seine Bemühungen um einen militärischen Sieg nicht unterstützen. Ähnliches muss die "Syrische Nationalkoalition der Revolutions- und Oppositionstruppen" von Saudi-Arabien, der USA, der Türkei und anderen hören – ebenso wie die Salafisten von Saudi-Arabien. Und die Türkei und Qatar sollten dieselbe Nachricht der Muslimbruderschaft übermitteln. Die Botschaft an all diese Gruppen muss eindeutig und übereinstimmend sein: Wir werden euch weiterhin politisch, finanziell und in Verhandlungen mit dem syrischen Regime unterstützen, aber keine militärische Lösung mehr befürworten.
Dies wäre ein starker Anreiz, nach Genf zu gehen. Kriegsparteien beginnen erst dann mit ernsthaften Verhandlungen, wenn sie wissen, dass es keine Alternativen dazu gibt.
Volker Perthes
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
© Project Syndicate 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de