"Die Türkei ist sich bewusst, wie abhängig sie von der EU ist"
Auf ihrem Treffen am Donnerstag und Freitag werden die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union über das Verhältnis zur Türkei beraten. Dabei wird es auch um die Verhängung von Sanktionen gegen Ankara gehen. Wichtigster Grund dafür ist das türkische Verhalten gegenüber Griechenland und Zypern.
Unvermindert setzt die Türkei ihre Gas- und Erdölerkundungen in den von beiden EU-Staaten beanspruchten jeweiligen maritimen Exklusiven Wirtschaftszonen (EWZ) fort. Die Außenminister der Europäischen Union hatten sich bereits im September auf einen Sanktionskatalog gegen die Türkei geeinigt. Nun liegt es an den Staats- und Regierungschefs, diese Maßnahmen in Kraft zu setzen - oder auch nicht. Dazu Fragen an den Türkei-Experten Günter Seufert.
Herr Seufert, bislang wurde auf den EU-Gipfeln eine Entscheidung über Sanktionen gegen die Türkei vertagt. Was erwarten Sie diesmal?
Schon am Montag haben die EU-Außenminister bei ihrem Treffen in Brüssel über die Türkei beraten. Nach der Sitzung erklärte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, man sei einhellig der Meinung gewesen, dass sich das Verhalten der Türkei nicht grundlegend geändert habe. Nach dieser Bestandsaufnahme müssten Sanktionen eigentlich verhängt werden.
Das ist richtig. Die Türkei hat keine der Bedingungen erfüllt, die die EU auf dem Gipfel vom 1. Oktober für den Einstieg in eine positive Agenda formuliert hat. Ankara hat erneut die Exklusive Wirtschaftszone (EWZ) der Republik Zypern verletzt und außerdem neue Streitpunkte geschaffen. So erklärt die Türkei auf Zypern plötzlich den griechisch-zyprischen Küstenort Varoscha als Teil der nur von ihr anerkannten "Türkischen Republik Nordzypern". Die türkische Regierung hat sich außerdem von dem international anerkannten Rahmen für eine Lösung des Zypernproblems - also der Schaffung eines gemeinsamen Staates - verabschiedet und setzt jetzt auf eine Anerkennung der "Türkischen Republik Nordzypern". Ankara hat damit die Lage im östlichen Mittelmeer eskaliert.
Die Türkei hat außerdem genau in der von der EU gesetzten Frist das russische S-400-Raketenabwehrsystem aktiviert, was keinesfalls im Interesse der EU liegt. Und sie hat im Streit mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron letztendlich alle europäischen Länder, die eine muslimische Einwanderung erlebt haben, der Islamophobie und einer rassistischen Behandlung der Muslime bezichtigt. Wenn man also die Beschlusslage der EU zugrunde legt und schaut, wie sich die Türkei verhalten hat, müsste es zu einer entschlossenen Reaktion gegen Ankara kommen. Ob das passiert, ist jedoch eine andere Frage.
Die Türkei steht unter Druck
Bislang hat die Bundesregierung verhindert, dass Sanktionen gegen die Türkei verhängt werden. Wichtig sind für Deutschland die Flüchtlingsfrage, Sicherheitsaspekte, der Verbleib Ankaras im westlichen Bündnissystem und die Terrorismusbekämpfung. Wird die Bundeskanzlerin diese Position auf dem Gipfel halten können?
Günter Seufert:Zumindest wird es für sie schwieriger werden. Die Zahl der Länder, die mit der Türkei ungeduldig sind, ist größer geworden. Zusammen mit Griechenland, Frankreich und Österreich votieren auch die Niederlande, Belgien, die Baltischen Staaten sowie Irland für ein härteres Vorgehen. Auch in der deutschen Diplomatie ist die Unzufriedenheit mit der Türkei groß. Deutschland hat sich mit seinen Vermittlungsbemühungen und seiner Bremserrolle beim letzten EU-Gipfel weit aus dem Fenster gelehnt. Die Türkei ist jedoch der Bundeskanzlerin in keiner Weise entgegengekommen.
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Können Sanktionen die türkische Regierung dazu bringen, ihr außenpolitisches Verhalten zu ändern?
Günter Seufert: Natürlich könnte ein entschlossenes Handeln der Europäischen Union die türkische Politik mäßigen. Die Türkei ist sich bewusst, wie abhängig sie von der EU ist. Sie vertraut aber auf die europäische Uneinigkeit.
Tragen Athen und Nikosia eine Mitschuld an der Eskalation im Verhältnis mit der Türkei?
Günter Seufert: Athen hat anfangs sehr davon profitiert, dass die EU in ihren Erklärungen ihre volle Solidarität mit Griechenland und Zypern zum Ausdruck gebracht hat. Damit hat die EU implizit die griechische Sichtweise unterstützt, dass Inseln genauso eine eigene EWZ etablieren können wie die Festlandküste. Als der Konflikt eskaliert ist, hat Griechenland jedoch sehr früh seine Bereitschaft erklärt, über die maritimen Grenzen zu verhandeln und letztendlich auch ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag anzuerkennen. Die Türkei dagegen hat immer neue Themen aufgeworfen: den Status der griechischen Inseln in der Ägäis und die Militarisierung dieser Inseln - obwohl das schon seit Jahrzehnten der Fall ist -, sowie den Status von Felsen in der Ägäis. Damit hat Ankara einen Gordischen Knoten geknüpft, dessen Auflösung fast unmöglich ist. Die Republik Zypern hat der Türkei indirekte oder inoffizielle Gespräche angeboten. Die Türkei ist darauf nicht eingegangen. Natürlich bringen auch Athen und Nikosia maximale Forderungen vor, aber sie sind bereit zur Deeskalation.
Ankara will sich als Regionalmacht etablieren
Riesige Erdöl- und Gasvorkommen haben Griechen und Zyprer bislang nicht gefunden. Experten bezweifeln, ob es sich finanziell überhaupt lohnt, die vorhandenen Vorkommen in der EWZ Zyperns zu fördern und nach Europa zu exportieren. Warum riskiert die Türkei dennoch mit der Entsendung ihrer Forschungsschiffe in die EWZ beider EU-Mitgliedstaaten eine Verschlechterung der Beziehungen mit der EU?
Günter Seufert: Tatsächlich vermuten Experten in den maritimen Zonen, die zwischen der Türkei und Griechenland sowie Zypern umstritten sind, keine großen Vorkommen. Die vielversprechenden Zonen sollen diejenigen sein, die von Israel und Ägypten beansprucht werden und nicht umstritten sind. Es sieht deshalb ganz danach aus, dass nicht der türkische Energiebedarf der entscheidende Punkt für Ankaras aggressives Auftreten im östlichen Mittelmeer ist. Eher geht es darum, dass sich die Türkei als die künftige Regionalmacht etabliert, die zu ihrem eigenen Nutzen Handels-, Energie- und Migrationsströme im östlichen Mittelmeer kontrolliert. So will sich Ankara auch den Zugang zu den nord- und anderen afrikanischen Märkten sichern, wo es sich in Konkurrenz mit europäischen Mächten, insbesondere mit Frankreich, sieht.
Donald Trump hat sich kaum um das Verhalten der Türkei im östlichen Mittelmeer gekümmert. Nach allem was man hört, will Joe Biden das so nicht hinnehmen. Wird die türkische Regierung es auf eine Verschlechterung der Beziehungen mit den USA ankommen lassen?
Günter Seufert: Es ist bezeichnend, dass Ankara das S-400-Raketensystem noch in den letzten Wochen der Trump-Regierung aktiviert hat, in der Hoffnung, dass keine Sanktionen folgen. Die Türkei weiß, dass Joe Biden einen anderen Stil pflegen wird. Die Anrufe Erdogans im Weißen Haus werden nicht mehr so leicht zum Präsidenten durchgestellt werden. Die Beziehungen werden eher durch die formale Diplomatie geregelt werden. Erdogan weiß auch, dass Biden stärker auf Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte achten wird. Gleichzeitig wird Biden versuchen, den russischen Einfluss in der Region zurückzudrängen, und hier kann ihm die Türkei von Nutzen sein. Die Beziehungen der USA zur Türkei werden deshalb wohl nicht wesentlich schlechter werden, aber es wird ein anderer Stil einkehren. Ankara wird versuchen, sich als eine Macht anzubieten, die für die USA im Hinblick auf Russland unverzichtbar ist. Die Frage ist, wie Biden darauf eingehen wird.
Interview: Panagiotis Kouparanis
© Deutsche Welle 2020
Günter Seufert leitet das "Centrum für angewandte Türkeistudien" (CATS) bei der "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) in Berlin. Er war Türkei-Korrespondent, unter anderem für die "Berliner Zeitung" und die "Zeit", und unterrichtete an Universitäten in Istanbul, Nikosia und Lausanne. Seine Forschungsschwerpunkte sind Türkei, Zypern, Migration, EU-Erweiterungspolitik und Politischer Islam/ Islamismus.