Zwischen Eskalation und Vermittlung

Die Krise im östlichen Mittelmeer spitzt sich zu. Griechenland bezichtigt die Türkei, vor griechischen Inseln illegal Erdgasvorkommen zu erkunden. Die Regierung in Ankara behauptet dagegen, dass die Gewässer zum türkischen Festlandsockel gehören. Einzelheiten von Ronald Meinardus aus Istanbul

Von Ronald Meinardus

Längst haben sich die Menschen in der Türkei daran gewöhnt: Präsident Recep Tayyip Erdogan liebt den öffentlichen Auftritt und hält gerne Reden an das Volk. Dieses Mal sollte es etwas ganz Besonderes sein. Alle Augen seien auf den Präsidenten gerichtet, vermeldete die regierungstreue Zeitung „Daily Sabah“ zwei Tage vor der „epochalen“ Ankündigung, die ganze Welt werde auf Erdogan schauen, wenn er „die gute Nachricht“ kundtut.

In einer von allen TV-Kanälen übertragenen Ansprache verkündete der Präsident sodann die Entdeckung großer Erdgasvorkommen vor der türkischen Schwarzmeerküste. Es handle sich um die größte Erdgas-Entdeckung in der türkischen Geschichte, so Erdogan.

Ob und in welchem Maße der Fund zur Überwindung der wachsenden ökonomischen Probleme der Türkei beitragen kann, war alsbald der Gegenstand intensiver Diskussionen vor allem in den sozialen Medien.

Zurückhaltend fiel der Kommentar des Journalisten Murad Yetkin aus, der auf seinem vielbeachteten Blog daran erinnerte, dass die Ankündigung von üppigen Rohstoff-Funden in der Türkei eine Routine habe und ein oft eingesetztes Wahlkampfinstrument sei. „Die gute Nachricht von Entdeckungen von Öl und Gas wurde von allen vorherigen Regierungen mit der Absicht eingesetzt, Wählerstimmen einzufangen“.

Als Reaktion auf die „Sensationsmeldung“ hätten – so Yetkin – „die Oppositionsparteien bereits ihre lokalen Organisationen angewiesen, sich auf vorgezogene Neuwahlen einzustellen“.

Bodenschätze wecken Begehrlichkeiten

Der türkische Präsident Erdoğan; Foto: picture-alliance/AA
Verheißung einer "neuen Ära" für die Türkei: Inmitten des Konflikts um Erdgasbohrungen im östlichen Mittelmeer hatte der türkische Präsident Erdogan am 21. August in Istanbul erklärt, die Türkei habe „die größte Erdgasentdeckung ihrer Geschichte im Schwarzen Meer gemacht“. Das Bohrschiff Fatih habe ein Vorkommen mit 320 Milliarden Kubikmetern entdeckt. Ziel sei es, das Land im Jahr 2023 mit Gas aus dem Vorkommen zu versorgen, so Erdogan.

Derweilen richtet Präsident Erdogan den Blick auf eine angrenzende Meereszone, wo Experten ebenfalls üppige Rohstoffquellen vermuten: „Wir hoffen, so der Präsident, dass wir ähnlich gute Nachrichten auch im Mittelmeer sehen werden. Wir werden unsere Operationen dort beschleunigen und unsere Bohraktivitäten fortsetzen“.

Um die maritimen Hoheitsrechte – und damit um die Frage, wem gehören die im Meeresgrund vermuteten Rohstoffe – ist ein heftiger Konflikt entbrannt. Dieser ist längst über die bilaterale, türkisch-griechische Dimension hinausgewachsen. Selten waren die Beziehungen der NATO-Partner Türkei und Griechenland an der brüchigen Südostflanke der Allianz so schlecht wie in diesen Tagen.

Im Mittelpunkt des Konfliktes steht heute nicht wie über viele Jahrzehnte die Zypern-Frage, auch wenn die Spannungen zwischen griechischen und türkischen Zyprioten das Verhältnis weiterhin vergiften. Heute geht es zu allererst um Erdöl und Erdgas. Die reichen Bodenschätze wecken Begehrlichkeiten. Der Nahe und Mittlere Osten hat viele Kriege erlebt, bei denen es um die Kontrolle über Energieressourcen ging.

Seit 1973, so wissen die Chronisten, streiten Athen und Ankara über die Abgrenzung der Seegrenzen. Im Auf und Ab der zwischenstaatlichen Beziehungen hat es immer wieder Anläufe zu einvernehmlicher Konfliktbeilegung gegeben. Mehr als einmal führten Dritte die Streithähne an den Verhandlungstisch, in früheren Jahren vor allem die USA. Doch diese Rolle hat Washington an die Deutschen abgegeben; Berlin drängt die Griechen und Türken mit Nachdruck und Geduld einen Ausgleich zu finden.

Auslöser der aktuellen Spannungen war die Ankündigung Ankaras, ein Forschungsschiff in Gewässer im Umfeld der griechischen Insel Kastellorizo in Marsch zu setzen. Für Athen ist und bleibt dies eine schwere Provokation, für Ankara ein eher normaler Vorgang, denn das kleine griechische Eiland liegt in Sichtweite zum anatolischen Festland.

Seismisches Forschungsschiff für Öl- und Gasbohrungen der Türkei; Foto: dpa/picture-alliance
Auf der Suche nach Gas und Öl: Die Türkei hat bereits ein Bohrschiff und mehrere Forschungsschiffe in der Mittelmeer-Region. Der türkische Präsident Erdogan bekräftigte Erdogan jüngst die Ambitionen seines Landes bei der umstrittenen Suche nach Öl und Erdgas im östlichen Mittelmeer. Die Türkei werde ihre Anstrengungen verstärken und Ende dieses Jahres ein weiteres Schiff für Probebohrungen ins Mittelmeer entsenden, kündigte der Präsident an.

Der Kern des Problems: Ankara will nicht anerkennen, dass die griechischen Inseln einen eigenen Festlandsockel haben – wie dies das internationale Seerecht vorsieht. Während die Griechen sich auf das Völkerrecht berufen und juristisch argumentieren, drängt Ankara, das die Seerechtskonvention nicht ratifiziert hat, auf eine politische Lösung.

Zum Unmut der Türken hat sich die EU in der Territorialfrage geschlossen hinter die Griechen gestellt: „Wir sind entschlossen, die Außengrenzen der Europäischen Union zu beschützen und unterstützen die Souveränität Griechenlands nach Kräften“, sagte EU-Außenbeauftragter Josep Borrell Ende Juni. Zuletzt stellten sich die EU-Außenminister abermals hinter Athen, als sie neben dem Aufruf zur „Deeskalation“ ein Ende der „rechtswidrigen Bohrtätigkeiten“ Ankaras verlangten.

Vertrauliche Sondierungen in Berlin

Die Europäer beließen es nicht bei Rügen und Appellen: Brüssel und Berlin startete eine diplomatische Intervention, die darauf abzielt, Präsident Erdogan zum Rückzug des Forschungsschiffes zu bewegen und Athen und Ankara an den Verhandlungstisch zu lotsen.

Berlin sendete ein deutliches Signal an die Adresse Erdogans: Fortschritte in den Beziehungen der Türkei zur EU seien davon abhängig, dass „Ankara Provokationen im östlichen Mittelmeer unterlässt“, so Außenminister Heiko Maas. Um den entfremdeten Nachbarn auf die Sprünge zu helfen, fanden im Juli in Berlin geheime Sondierungen mit Emissären aus Athen und Ankara statt.

Die Hoffnung auf eine schnelle Verständigung war nur von kurzer Dauer. Inzwischen gaben Athen und Kairo den Abschluss einer zwischenstaatlichen Vereinbarung über die Festlegung der Seegrenzen zwischen Ägypten und Griechenland bekannt. Über zehn Jahren hatten Unterhändler an dem Vertrag gebastelt.

In der Türkei schlug die Bekanntgabe hohe Wellen. Das „sogenannte Abkommen“ – so heißt es abfällig in türkischen Medien – sei „null und nichtig“, wetterte Präsident Erdogan. Er fühle sich hintergangen und traue den Griechen nicht. Nach türkischer Lesart habe es eine Stillstandvereinbarung gegeben zwischen den Nachbarn; diese habe Athen mit seinem Deal mit den Ägyptern verletzt.

Wie inzwischen durchgesickert ist, waren auch die Deutschen alles andere als begeistert von dem griechischen Abkommen mit der Regierung in Kairo. Berlin erteilte der Athener Absicht, das griechisch-ägyptische Abkommen in einer EU-Erklärung wohlwollend zu erwähnen eine Absage, berichten griechische Medien.

Vergangene Woche tauschten sich der griechische Außenminister Dendias (l.) und sein deutscher Amtskolege Heiko Maas in Athen über den Streit um Gasvorkommen im Mittelmeer aus; Foto: Imago Images
Schulterschluss mit der Führung in Athen: Berlin hatte Erdogan eindeutig signalisiert: Fortschritte in den Beziehungen der Türkei zur EU seien davon abhängig, dass „Ankara Provokationen im östlichen Mittelmeer unterlässt“, so Außenminister Heiko Maas. Auch Frankreichs Präsident Macron gilt in der EU als Kritiker des türkischen Präsidenten. Zur symbolischen Unterstützung Griechenlands hatte er Frankreichs Militärpräsenz in der Region verstärkt. Die EU forderte die türkische Regierung auf, die Suche nach Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer "unverzüglich" einzustellen.

Ein Dorn im Auge für Ankara

Für Erdogan ist die griechisch-ägyptische Vereinbarung vor allem deshalb ein Dorn im Auge, weil sie das Vorhaben Ankaras durchkreuzt, weite Teile des östlichen Mittelmeers zwischen der Türkei und der libyschen Regierung in Tripolis aufzuteilen – und dabei Hoheitszonen der griechischen Inseln Kreta und Rhodos stillschweigend übergeht.

Als Reaktion auf das Abkommen zwischen Kairo und Athen setzte Erdogan das Forschungsschiff – samt militärischer Eskorte – wieder in Gang. Auf beiden Seiten der Ägäis verschärfte sich die Rhetorik, hüben wie drüben schüren nationalistische Medien die Stimmung.

Griechenlands Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis sei entschlossen, Griechenlands Souveränität zu verteidigen, heißt es in Athen. Zwar suche man nicht die militärische Eskalation, doch bestehe „das Risiko eines Unfalls“, der zu einem Krieg führen kann, so der griechische Regierungschef in einer Fernsehansprache an die Nation.

Derweilen sind beide Seiten bemüht, auf der internationalen politischen Bühne Beistand für ihre jeweilige Position zu mobilisieren. Im diplomatischen Ringen haben die Griechen die Nase vorn: Die EU steht wie gesagt geschlossen hinter Athen, Frankreich nicht nur mit Worten, sondern auch seinem Militär, das demonstrativ im Krisengebiet Flagge zeigt – auf Seiten Griechenlands und der Republik Zypern. Schließlich haben sich Israel - und zuvor Ägypten – mit deutlichen Solidaritätsbekundungen auf die griechische Seite geschlagen.

„Macron ist der Buhmann“

Für die „offizielle“ Türkei ist vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der Buhmann. Die Kommentarspalten der regierungsnahen Medien enthalten zahlreiche unfreundliche Meinungsbeiträge: Der französische Präsident ermuntere Griechenland, die Spannungen mit der Türkei zu eskalieren, schreibt Burhanettin Duran in „Daily Sabah“. Dies sei „ein Versuch, sich für die Erniedrigung in Libyen zu rächen“.

Wesentlich besser als Frankreich, mit dem die türkische Regierung in der libyschen Frage über Kreuz liegt, steht es um das Verhältnis zu Deutschland und der Bundeskanzlerin. „Nur zwei Länder haben für die Türkei Gewicht, Deutschland und die USA“, sagt der Politologie-Professor Mustafa Aydin von der Istanbuler Kadir Has Universität in einem Interview in der griechischen Tageszeitung „Ta Nea“.

Auch die Europäische Union hat keinen Top-Platz in der Beliebtheitstabelle: „Wenn die EU Teil eines Prozesses sein will, der auf Frieden, Wohlstand und Stabilität im östlichen Mittelmeer abzielt, muss sie objektiv und ehrlich sein“, sagt der Sprecher des türkischen Außenministeriums Hami Aksoy. Zwei Mitgliedstaaten – gemeint sind Griechenland und die Republik Zypern – halten die EU in Geiselhaft mit ihrer Manipulation und Erpressung, so die drastischen Worte des Sprechers des Außenamtes in Ankara.

Welche Rolle für die EU?

Sinan Ülgen, Vorsitzender der Istanbuler Denkfabrik EDAM, traut der EU als Mittlerin nicht viel zu: „Die Europäer haben kein richtiges Druckmittel gegen Erdogan. Im Gegenteil: die Türkei kann die EU in der Flüchtlingsfrage unter Druck setzen.“

Dass Ankara die Flüchtlinge als politische Waffe einsetzen kann, hat Erdogan in diesem Frühjahr eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Als vertrauensbildende Maßnahme kann man die unangekündigte Grenzöffnung allerdings nicht bezeichnen. Der Vorgang hat die Position Athens in der EU gestärkt und dem Image Erdogans weiteren Schaden zugefügt.

„Wir brauchen eine kohärente Türkei-Politik…und das gelingt nur mit Frankreich zusammen“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Auftakt der deutschen Ratspräsidentschaft im Bundestag.

In der Frage der türkisch-griechischen Beziehungen liegen Berlin und Paris nicht immer auf einer Linie. Nun gelobten Merkel und Macron bei ihrem Treffen in Bregancon, die Differenzen hinter sich zu lassen. „Wir brauchen dort Stabilität und nicht Spannungen“, so die Kanzlerin. Macron sagte, die EU müsse die Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten schützen.

Frankreich und Deutschland arbeiteten dabei nun zusammen, man müsse die jeweiligen Fähigkeiten „komplimentär“ einsetzen. Ausdrücklich stellte sich der französische Präsident hinter die deutsche Vermittlung.

Das sind wohlklingende Worte. Die Zukunft wird zeigen, ob ihnen auch Taten folgen. In der Libyen-Frage war bis zuletzt wenig paneuropäische Harmonie erkennbar. Vielleicht schaffen es die Europäer ja – angeführt von Paris und Berlin – im Konflikt im östlichen Mittelmeer eine Lösung herbeizuführen.

Das wäre gut für Europa, vor allem aber für Griechenland, die Türkei - und nicht zuletzt Zypern.

Ronald Meinardus

© Qantara.de 2020

Dr. Ronald Meinardus leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul.