Eine Kultur der Gewalt
Das Innenministerium verkündet zwei Tage vor dem Inferno die Festnahme des Chefs der Al Qaida-Zelle in Bagdad. Führende Al Qaida-Mitglieder aus der Sunnitenprovinz Anbar werden eine Woche davor getötet. Ein ranghohes Al Qaida-Mitglied in Tikrit geht im April den Fahndern ins Netz. Es heißt, in der Provinz Dijala sei die Terrorzelle gänzlich ausgerottet. Die US-Truppen ziehen Ende letzten Jahres ab und informieren, dass Al Qaida dezimiert sei und keine wirkliche Bedrohung mehr darstelle. Überhaupt seien es nur maximal 5000 bis 10.000 Kämpfer gewesen, die den Terror im Zweitstromland zu verantworten haben.
Und dann das: In 14 Städten explodieren am 24. Juli 2012 fast zeitgleich 22 Sprengsätze. Es ist der blutigste Tag im Irak seit Mai 2010. Über 100 Menschen werden getötet, doppelt so viele verletzt. Auch in den Tagen danach und Wochen davor explodieren regelmäßig Sprengsätze im ganzen Land. Die Opferzahlen im Juni gleichen denen von vor zwei Jahren, als der Terror langsam nachließ und die Iraker Hoffnung auf ein normales, friedliches Leben schöpften. Die Zahlen sprachen dafür. Der November 2011 war laut "Iraq Body Count" - einer unabhängigen Webseite, die den Tod von Zivilisten erfasst - der bislang friedlichste Monat seit dem Einmarsch der Amerikaner und Briten vor neun Jahren. Seitdem zeigt die Kurve wieder nach oben. Dreht sich das Rad des Terrors jetzt zurück?
Blutige Terror-Tradition
Wenige Tage nach den Anschlägen hat sich Al Qaida zu den Angriffen bekannt, wie Sicherheitskreise in Bagdad zuvor schon vermutet hatten. Die Anschlagsserie trägt die Handschrift des Terrornetzwerks. Bereits in der Vergangenheit verübten sie im muslimischen Fastenmonat Ramadan koordinierte Bombenexplosionen. Selbstmordanschläge haben sich gerade in dieser Zeit gehäuft.
So konnten im Ramadan 2005 unbemerkt zwei Lastwagen voll mit Sprengstoff auf den Parkplatz zwischen den beiden größten Hotels am Tigrisufer in Bagdad gelangen und explodieren. Die Detonation war so heftig, dass im Umkreis von 200 Metern alle Fensterscheiben der Häuser barsten. In den Hotels selbst kamen fast 100 Menschen ums Leben, viele wurden verletzt. Der Sachschaden ist noch heute zu sehen. Die unteren Etagen wurden komplett zerstört. Der Kontrollpunkt bei der Einfahrt zu den Herbergen war nicht besetzt, die Sicherheitsleute aßen Iftar, das Mahl zum Fastenbrechen.
Ein Jahr später gelangte ein Selbstmordattentäter in die Lobby eines anderen Hotels, nachdem der Sicherheitsbeamte vor Erschöpfung eingeschlafen war. Der Attentäter zündete seinen Sprengstoffgürtel und riss fast 30 Menschen mit in den Tod. Bombenanschläge in den Nachmittagsstunden auf Marktplätzen im Schiitenviertel Sadr City im Nordosten von Bagdad waren im Ramadan 2007 besonders blutig, da die meisten Bewohner zur gleichen Stunde für das Fastenbrechen einkaufen gingen. Terror-Gruppen nutzten das kollektive Verhalten der Fastenden schamlos aus. In den meisten der Fälle bekannte sich das Netzwerk "Islamischer Staat Irak" zu den Anschlägen, dem mit anderen auch Al Qaida angehört. Für irakische Sicherheitskreise war es daher von Beginn an naheliegend, dass auch in diesem Ramadan die Bombentoten auf das Konto Al Qaidas gehen.
Politischer und wirtschaftlicher Stillstand
Doch wer steckt wirklich dahinter und vor allem, wer ist der Geldgeber für derartige Bluttaten? Geheimdienstkreise sprechen davon, dass das Terrornetzwerk "Islamischer Staat Irak" selbst in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten stecke. Die Anschläge, die ausgeführt werden, seien zunehmend Auftragsmorde. "Der Terror im Irak ist politisch motiviert", behauptet denn auch Yonadam Kanna, einer der wenigen christlichen Abgeordneten im irakischen Parlament.
Seit dem Abzug der US-Truppen Ende letzten Jahres erlebt das Land zwischen Euphrat und Tigris eine Dauer-Regierungskrise. Über Monate versucht die Opposition ein Misstrauensvotum gegen Premierminister Nuri al-Maliki zustande zu bringen, um den Regierungschef abzulösen, ohne Erfolg. Ihm wird vorgeworfen, dass er zuviel Macht auf sich konzentriere und vor allem die Sunniten davon fernhalten will. Malikis Rechtsstaatspartei ist nur die zweitstärkste Fraktion in der Volksvertretung, Rivale Ijad Allawi hat einen Sitz mehr. Doch konnte dieser keine regierungsfähige Mehrheit auf sich vereinen. In dem Koalitionsvertrag für eine "Regierung der nationalen Einheit", den Maliki vor zwei Jahren mit schiitischen Parteien und den Kurden schloss, sind Schlüsselressorts wie das Innen- und das Verteidigungsministerium für Allawi reserviert. Gleichzeitig sollte der eigentliche Wahlsieger den Vorsitz einer neu zu gründenden Sicherheits- und Kontrollbehörde führen.
Nichts dergleichen ist seitdem geschehen. Maliki führt kommissarisch die Schlüsselressorts und von der Sicherheitsbehörde spricht heute niemand mehr. Allawi ist zwar Schiit wie Maliki, hat jedoch die meisten sunnitischen Parteien hinter sich. Der Streit der beiden Männer zieht sich nun schon seit Monaten durch die politische Landschaft Iraks und lähmt jeglichen Fortschritt. Außer dem Ölsektor wird derzeit nichts weiterentwickelt. Politisch und wirtschaftlich verzeichnet das Land einen für die Bevölkerung verheerenden Stillstand.
Eine Vergangenheit voller Gewalt
Während die Ägypter ihrem Unmut über die Politiker Luft machen, indem sie massenweise auf die Straßen gehen und friedlich demonstrieren, explodieren im Irak Bomben. Gewaltvoller Widerstand hat hier Tradition. "Bei uns herrscht eine Kultur der Gewalt", sagt Fareed Jazim Hamoud. Der Rektor der juristischen Fakultät an der Universität Kirkuk hat kürzlich ein Buch zum Thema herausgegeben, in dem er die unterschiedlichen Formen von Gewalt im Irak untersucht. Darin nehmen die Kapitel Gewalt durch Politik und religiösen Fanatismus eine wichtige Stellung ein. Gestützt werden Hamouds Thesen durch eine Studie, die die US-Administration noch vor dem Rückzug der Truppen in Auftrag gegeben hat. Demnach sind 75 Prozent der befragten Iraker der Meinung, dass der Terror in ihrem Land von religiösen Fanatikern geschürt und von der Politik missbraucht werde.
Studiert man die Geschichte Iraks, finden sich unzählige Beweise für die Anwendung von Gewalt in Konfliktsituationen. Die Gewaltherrschaft Saddam Husseins, der sein eigenes Volk brutal abschlachten ließ, als Kurden und Schiiten gegen ihn aufbegehrten, haben bei den Menschen ebenso Spuren hinterlassen wie der Bürgerkrieg im kurdischen Norden Mitte der 1990er Jahre, als die beiden damals verfeindeten Clans Barzani und Talabani gegeneinander blutig kämpften. Gewaltvoll war auch der Widerstand gegen die britischen und osmanischen Besatzer, mit denen sich irakische Aufständische erbitterte Schlachten lieferten.
"Die Ägypter haben ihre Besatzer umarmt", analysiert ein westlicher Diplomat den Mentalitätsunterschied zwischen den beiden Völkern. Er nennt in dem Zusammenhang Napoleon, dem Begründer der Ägyptologie oder Mohammed Ali, dem osmanischen Statthalter, den die Nilbewohner auch heute noch verehren. "Die Iraker dagegen, haben immer gegen ihre Besatzer gekämpft."
Birgit Svensson
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Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de