Bitte keine Mitleids-Bußestunde mehr!
"Unser Käse war weiß wie der Himmel", erinnert sich Ramie in The Trip, ganz anders als der gelbe Käse in Deutschland. Auch der blaue Himmel und der syrische Kaffee mit Kardamom fehlen ihm – vor allem aber seine Freunde, die es nicht geschafft haben. "Ich versuchte zu sterben, aber hier stirbt keiner. Alle werden alt, bekommen weiße Bärte und wackelige Knie", sagt er am Schluss des Stücks.
Ramie ist das Alter Ego seines Autors Anis Hamdoun, 2013 geflüchtet aus dem syrischen Homs, der "Stadt der Sonne", angekommen in Osnabrück, der "Friedensstadt", wo er sich erst einmal um ein Praktikum am Theater bemühte – und schnell die Chance erhielt, für das Festival Spieltriebe sein eigenes Stück mit Osnabrücker Schauspieler zu erarbeiten.
The Trip bringt auf den Punkt, wie man sich wohl so fühlt, aus der Hölle gestrandet zu sein in einer bürgerlichen deutschen Mittelstadt. Es ist eine melancholische Hommage an die toten Freunde des Syrienkriegs und die Ratlosigkeit des Überlebenden. Und es ist eine seltene Ausnahme.
Denn obwohl das Thema Flucht auf deutschen Bühnen zurzeit allgegenwärtig ist, Geflüchtete oftmals selbst auf der Bühne stehen oder Schauspieler ihre tragischen Schicksale erzählen lassen, werden Geflüchtete kaum jemals zu eigenen Autoren oder Regisseuren ihrer Geschichten.
Das macht jede Fluchtgeschichte auf der Bühne zwiespältig und bringt sie in den Verdacht, zu Marketing-Zwecken voyeuristisch ausgestellt zu werden – eine Art Mitleids-Bußestunde von westlichen Regisseuren für westliche Zuschauer, die danach weitermachen können wie zuvor. Von "Flüchtlingskannibalismus" sprach etwa der Soziologe und Migrationsforscher Tsianos Vassilis im Juni 2016 beim Theaterfestival Impulse.
Von der Eintagsfliege zum Überraschungserfolg
Zuerst war The Trip nur als Eintagsfliege geplant. Seitdem das Stück in den Osnabrücker Spielplan aufgenommen wurde, ist es stets ausverkauft, wurde in Karlsruhe, Frankfurt und München gelesen, gewann das nachtkritik-Theatertreffen 2016 und wurde an der Berliner Schaubühne gezeigt. Heute ist Anis Hamdoun in Deutschland ein gefragter Künstler, spricht nahezu perfekt Deutsch, dreht einen großen, crowdfunding-finanzierten Dokumentarfilm über "Neuankömmlinge". Eine Erfolgsgeschichte, die nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass es für syrische Künstler in Deutschland noch kaum Arbeitsmöglichkeiten gibt.
"Wir brauchen konkrete Produktionsmöglichkeiten für syrisches Theater in Deutschland – auf der Grundlage von Respekt, nicht als Wohltätigkeitsveranstaltung. Und selbstverständlich auch in der Beurteilung der Qualität, ohne einen Schicksalsbonus", sagte der syrische Dramatiker Mohammed Al Attar im März 2016 der Fachzeitschrift Theater der Zeit. Al Attar, 1980 in Damaskus geboren, gehörte zu den wichtigsten Dramatikern Syriens und ist seit 2011 ein scharfer Analytiker der syrischen Konflikte.
Aufsehen erregte seine Antigone in Shatila, eine Überschreibung des klassischen Sophokles-Dramas, erarbeitet in einem libanesischen Flüchtlingscamp mit syrischen Flüchtlings-Frauen. Heute lebt Al Attar mit Unterstützung der Heinrich-Böll-Stiftung, die Hilfe für geflüchtete Schriftsteller anbietet, in Berlin. Wie viele seiner syrischen Theaterkollegen heute in Deutschland leben, weiß er nicht so genau, auch wenn er sich bemüht, sie zu vernetzen.
Gerade wurde sein neuestes Stück Während ich wartete, beim Festival Theaterformen in Braunschweig als Gastspiel erstmals in Deutschland gezeigt. Inszeniert wurde es von Omar Abusaada, der auch bei Antigone in Shatila Regie führte – einer der wenigen Künstler, die noch in Damaskus leben. Tatsächlich gibt es dort heute immer noch eine Art Kulturleben, auch die renommierte Theaterakademie bildet noch jährlich 10 bis 15 Absolventen aus.
Produktionsbedingungen in Deutschland
Und auch wenn Mohammed Al Attar immer wieder auf Podien und Lesungen eingeladen wird, etwa vom Theater an der Ruhr in Mülheim, wäre es wünschenswert, dass ein Künstler seines Formats in Deutschland stärker wahrgenommen würde. Hilfreich auf dem Weg dahin sind sicher regelmäßige Künstlertreffen von Geflüchteten – wie sie etwa am Maxim Gorki Theater in Berlin, dem Theater Mülheim an der Ruhr oder dem Literaturhaus Köln stattfinden. Doch diese Maßnahme des Self-Empowerments ist noch ausbaufähig: "Es wäre sehr wichtig, dass die syrischen Theaterleute miteinander verbunden bleiben und wir uns über die Arbeit austauschen", sagt Al Attar.
Geflüchtete Theaterleute, die eine eigene künstlerische Stimme erheben, bleiben Ausnahmen. Manche von ihnen finden sich etwa auf der Facebook-Seite "Syrische Künstler in Deutschland". Etwa Fady Jomar, Lyriker und Journalist aus Damaskus. Zurzeit lebt er in einer Flüchtlingsunterkunft in Marienheide, rund eineinhalb Stunden von Köln entfernt, und wartet auf seine Anerkennung.
Ein seltsamer Kontrast zur Tatsache, dass Anfang Juli 2016 sein Opernlibretto für die Oper Kalîla wa Dimna nach einem Klassiker der arabischen Literatur auf dem renommierten Opernfestival in Aix-en-Provence Uraufführung feierte – die erste arabische Oper überhaupt, komponiert vom Palästinenser Moneim Adwan. Oder der Regisseur Fadi Al-Sabbagh, der in Waiblingen lebt und dort auch sein Stück Jasmin inszeniert hat, oder der 30-jährige Ramadan Ali, der am Jungen Theater Augsburg oder Akademietheater Ulm spielt und dort auch einen Videoclip über seine Erfahrungen als Geflüchteter drehte.
Eine eigene künstlerische Stimme
Sollten Geschichten von Flucht oder Migration überhaupt noch auf deutschen Bühnen erzählt werden, haben Geflüchtete, die nicht Künstler sind, nicht Wichtigeres zu tun? Mittlerweile gibt es in Deutschland manches Projekt, in dem Leidensgeschichten bewusst ausgespart werden.
Etwa die Ruhrorter am Theater an der Ruhr: In einem leerstehenden Woolworth-Kaufhaus haben elf Geflüchtete zwischen 16 und 38 Jahren monatelang geprobt und erzählen schließlich in Als gestern jedes Heute noch das Morgen war und jedes Heute morgen schon zum Gestern wird eine selbst improvisierte, universelle, poetische Coming-of Age-Geschichte von ratlosen Zeiten, durch die jeder Mensch hindurch muss, um vielleicht irgendwann Wurzeln zu schlagen. Was sie beschäftigt, gestrandet in den Wartehallen der Ämter, von Kriegserinnerungen verfolgt, voller Hoffnung, ahnt man nur – ausgesprochen wird es nie.
Anis Hamdoun, der neben allen anderem unbegleiteten Geflüchteten an einem Osnabrücker Berufskolleg Theaterunterricht gibt, ist dennoch überzeugt: "Theater kann helfen, Traumata zu bewältigen und sich in der Gesellschaft zu verankern. Die Geschichten des Krieges müssen erzählt und gehört werden. Erst danach kann man sich wieder auf andere Dinge konzentrieren." Trotzdem glaubt auch er: die Regie und Kontrolle über ihre eigenen Geschichten sollte man Geflüchteten gerne selbst überlassen.
Dorothea Marcus
© Goethe-Institut 2016