Eine andere Geschichte des Islams
Islamkritiker, islamische Fundamentalisten und sogar islamische Reformer haben einiges gemeinsam. Deshalb könnten sie alle von diesem Buch profitieren: Die sogenannten Islamkritiker verlegen sich in ihren Argumenten und Beispielen ebenso wie die islamischen Fundamentalisten auf eine Art der Sophisterei. Sie suchen Koranverse und Überlieferungen des Propheten hervor und reißen diese aus dem Kontext.
Fundamentalisten benutzen dieses Mittel, um die Autorität des Texts in autoritärer Absicht verwenden zu können. Islamkritiker machen dasselbe, allerdings im Namen von Aufklärung und Progressivität. Nicht einmal Islamreformer handeln anders, denn auch sie geben vor zu wissen, was "der Islam" sei. Und indem die drei beschriebenen Gruppen zu wissen behaupten, was "der Islam" ist, essentialisieren sie ihn und reproduzieren das orientalistische Narrativ.
Pluralität als Selbstverständlichkeit
Islamkritiker und Fundamentalisten ignorieren allerdings nicht nur den Kontext, in dem die Texte entstanden sind. Sie ignorieren vor allem die Existenz alternativer Praktiken und Lebensformen. Deshalb ist Thomas Bauers Buch so erhellend. Bauer zeigt, dass früher viele Wahrheiten nebeneinander existierten. Es gab das eine und ebenso das andere: den Weinpokal und das Weinverbot, die Malerei und das Bilderverbot. Die islamische Kultur, so Bauer, zeichnete sich jahrhundertelang durch eine extrem hohe Ambiguitätstoleranz aus. Pluralität war eine Selbstverständlichkeit.
Warum es Ambiguität und Pluralität in Theorie und Praxis in der islamischen Welt jahrhundertelang geben konnte, hat mehrere Gründe. Einer ist, dass die im Westen oft formulierte Aussage, es gebe im Islam keine Trennung von religiöser und weltlicher Sphäre, von der Praxis widerlegt wird.
Abgesehen davon, dass wohl kaum eine Aussage darüber möglich ist, was "der Islam" eigentlich sei, denn dazu gibt es viel zu viele Erscheinungsformen des Islams, ist falsch daran die Grundannahme: "Der Islam" hat in Geschichte und Gegenwart islamischer Gesellschaften keineswegs alle Lebensbereiche durchdrungen. Wesentliche Bereiche – beispielsweise Medizin und sogar das Recht und die Herrschaft, die weltlich organisiert waren – sind in der Geschichte keineswegs vom Islam geprägt oder gar dominiert worden.
Schwören auf den Eid des Hippokrates, nicht auf den Koran
Dennoch spricht man im Westen bis heute von islamischer Medizin oder von islamischer Philosophie. Ärzte in der islamischen Welt schwören seit Jahrhunderten den Eid des Hippokrates und nicht auf den Koran, und eine spezifische Heilungslehre leiteten Ärzte muslimischen Glaubens aus dem Koran auch nicht ab.
Die Philosophie des Rhazes (gest. 925) wird zwar im Seminar für Orientalistik unter dem Label islamische Philosophie studiert, doch ist sie nicht islamischer, als sagen wir die Philosophie Kants christlich ist. Sie wurde lediglich von einem Manne verfasst, der in einem Teil der Welt lebte, der mehrheitlich von Muslimen bewohnt war. Aber um zu verstehen, worauf sich seine Philosophie bezieht, ist es wichtiger, Aristoteles zu lesen als den Koran.
Bauers Buch enthält eine Fülle solcher Beispiele. Ein weiteres: Islamisiert wurde auch die Kunst. Jedweder Kultur- oder Gebrauchsgegenstand aus dem Teil der Welt, in dem mehrheitlich Muslime leben, wird heute im Westen in einem Museum für islamische Kunst dargeboten. Ein Großteil dieser Objekte stammt aber aus dem weltlichen Leben. Dennoch firmiert die Schale mit figürlichen Darstellungen ebenso wie der Weinpokal als islamische Kunst.
Noch merkwürdiger ist: Wenn im Islam tatsächlich immer alle Bereiche so sehr von der Religion durchdrungen waren, wie kommen wir dann zu all diesen Gefäßen mit Abbildungen oder zu den Bildern im Isfahaner Herrscherpalast Ali Qapu oder den Weinpokalen und den Lobgedichten auf den Wein? Besteht nicht im Islam ein Bilder- und vor allem ein Alkoholverbot?
Man macht es sich zu leicht, all diese Beispiele als bloße Abweichung von der Norm abzutun und sie als marginal hinzustellen.
Vielleicht, so Bauers These, war eher das die Norm, was wir als Abweichung klassifizieren, nämlich der Pluralismus, und eine allgemein akzeptierte und überall gelebte Norm gab es gar nicht.
Katajun Amirpur
© Qantara.de 2012
Thomas Bauer: "Die Kultur der Ambiguität". Eine andere Geschichte des Islams, Verlag der Weltreligionen, Berlin 2011
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de