Ein Kampf für Freiheit und Würde
Am 4. Juli wurde in den Vereinigten Staaten traditionell der Erlangung der Freiheit und Unabhängigkeit gedacht. In Tunesien markierte der 4. Juli 2015 ebenfalls eine Zäsur auf dem Weg zu Freiheit und Demokratie – allerdings nicht im positiven Sinne. An diesem Tag sah sich der tunesische Präsident Béji Caïd Essebsi gezwungen, als Reaktion auf die wachsende Terrorgefahr den nationalen Notstand auszurufen und wichtige persönliche Freiheitsrechte einzuschränken.
Durch das jüngste Attentat von Sousse ist erneut deutlich geworden, wie steinig Tunesiens Weg zu einer gefestigten Demokratie noch immer ist. Denn mit dem bis dato blutigsten Terroranschlag in der Geschichte unseres Landes sollte das zerstört werden, was wir in den wenigen Jahren nach dem Sturz Ben Alis aufgebaut haben: eine offene Gesellschaft mit einem pluralistischen Regierungssystem und einer demokratischen Verfassung mit festgeschriebenen Grundrechten und Freiheiten.
Der Kampf um die jüngere Generation
Die grausamen Bilder ermordeter Urlauber am Strand haben uns alle entsetzt. Sie haben aber auch bei den tunesischen Bürgern und ihren politischen Vertretern den Willen gestärkt, sich denjenigen entgegenzustellen, die sich unserem Weg zur Demokratie wiedersetzen. Dieser Kampf ist ein Kampf für Freiheit und Würde, aber vor allem ein Kampf um die nächste Generation, um die jungen Menschen in Tunesien wie auch in Libyen, Syrien, der gesamten arabischen Welt.
Dieser Kampf wird aber auch in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, in ganz Europa gefochten. Auch hier droht das Abgleiten junger Menschen in Richtung Extremismus und Fanatismus. Viele IS-Kämpfer stammen aus meinem Heimatland, aber täglich machen sich auch viele junge Menschen in Westeuropa auf, um in Syrien zu kämpfen. Ob in Djerba oder Dinslaken: die Herausforderungen sind grundsätzlich gleicher Natur. Und wir können sie nur gemeinsam mit unseren europäischen Partnern bewältigen.
Von welchen Herausforderungen spreche ich? Der Arabische Frühling war getragen von jungen Menschen. Sie waren es, die während der Revolution auf die Straße gegangen sind und das Ende des ancien regime gefordert haben. Und gerade diese jungen Frauen und Männer müssen nun auch am Aufbau des neuen Tunesiens auf der Grundlage von Demokratie, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit beteiligt werden.
Demokratie und Freiheit als Basis für eine bessere Zukunft
Wir müssen den Jugendlichen zeigen, dass Demokratie und Freiheit die Basis für eine bessere Zukunft sein werden, d.h. für gute Arbeitsplätze, Meinungsfreiheit, staatliche Institutionen, die ihre Rechte respektieren sowie ein Wohlfahrtssystem, dass ihnen bei der persönlichen Entfaltung zur Seite steht. Vor dem Hintergrund chronischer Arbeitslosigkeit sowie sozialer und regionaler Ungleichheiten hat sich ein Gefühl der Ausgrenzung verbreitet. Dieses Gefühl nutzt der IS und lockt Jugendliche mit falschen Versprechen und einer apokalyptischen Vision.
Wie können wir dieser Ausgrenzung entgegenwirken und sicherstellen, dass Demokratie den jungen Menschen in der ganzen Region zugute kommt? Vor allem durch Teilhabe, Wohlstand und Sicherheit. Direkt nach der Revolution in Tunesien wurde mit der Erarbeitung einer neuen Verfassung, der Reform der Institutionen und der Überarbeitung bestehender Gesetze begonnen. Die Grundlage dieser starken Verfassung bilden Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung persönlicher Rechte und Freiheiten.
Aufbau föderaler Strukturen, Stärkung der Kommunen
Es ist nun unsere Aufgabe, dass diese neue Verfassung nicht nur im Zentrum des Landes, sondern eben auch in den übrigen Regionen spürbar und erfahrbar sein wird. Die tunesische Regierung arbeitet an einem weitreichenden Projekt der Dezentralisierung, durch den der Aufbau von föderalen Strukturen und die Stärkung der regionalen und kommunalen Behörden vorangebracht werden soll.
Der tunesische Staat muss sich auf die Teilnahme und Integration aller Regionen konzentrieren. Wir wollen erreichen, dass Demokratie nicht abstrakt („die da oben“) bleibt. Demokratie muss greifbar sein und spürbare Auswirkungen und Vorteile für jeden einzelnen Tunesier bieten.D
urch die Stärkung kommunaler Regierungsstrukturen können mehr Tunesier direkt auf die Entscheidungen Einfluss nehmen, die sie betreffen. Teilhabe allein löst das Problem jedoch noch nicht. Sie muss einhergehen mit wirtschaftlichem Wachstum, das in Wohlstand für alle mündet. Seit Jahrzehnten vermarktet sich Tunesien als ein Wirtschaftswunder, aber die beeindruckenden Wachstumszahlen haben die ungleiche Verteilung des Wohlstands verschleiert.
Vom Aufbau föderaler Strukturen, die zu den anstehenden Kommunalwahlen im nächsten Jahr implementiert werden sollen, und der Stärkung lokaler Selbstverwaltung versprechen wir uns wichtige Impulse für ökonomisches Wachstum. Insbesondere der Förderung der ländlichen Entwicklung in der Peripherie kommt dabei große Bedeutung zu. Beim Aufbau dieser föderalen Strukturen als auch des dualen Bildungssystems, ist Deutschland ein großes Vorbild für Tunesien.
Toleranz in Grenzen
All diese beschriebenen Bemühungen und Projekte werden jedoch weiterhin unter den stetigen Attacken des IS und seiner Sympathisanten zu leiden haben. Deshalb kommt schließlich einer Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage höchste Bedeutung zu. Die tunesische Regierung - und nicht zuletzt die von mir geführte Ennahdha-Partei - stehen für Toleranz und Zusammenarbeit der unterschiedlichen politischen Gruppen in Tunesien.
Diese Toleranz hat jedoch klare Grenzen. Wer sich außerhalb unserer Verfassung bewegt, Hass predigt, Religion für seine politischen Zwecke missbraucht und die eigenen Ideen mit Gewalt durchzusetzen versucht, muss mit harter und konsequenter Verfolgung rechnen.
Deshalb hat die Regierung nach dem jüngsten Anschlag beschlossen, ihre Bemühungen für eine Reform des Anti-Terror-Gesetzes zu intensivieren, um so sicherzustellen, dass staatliche Institutionen die notwenigen Mittel haben, weiteren Rekrutierungen durch den IS und der Anstachelung zu Gewalt entschieden entgegenzuwirken zu können.
Wir müssen schmerzhafte Lehren aus den jüngsten Attacken von Bardo und Sousse ziehen: die Koordination zwischen der Armee und den Sicherheitskräften, die dem Innenministerium unterstellt sind, muss deutlich verbessert werden. Eine Reform der Sicherheitskräfte sowie insbesondere neue Ansätze in der Ausbildung und praktischen Polizeiarbeit sind unabdingbar.
Notwendige Hilfe und Kooperation im Sicherheitsbereich
Auch in diesem Bereich brauchen wir die Hilfe unserer europäischen Partner: Im Rahmen der Transformationspartnerschaft zwischen Deutschland und Tunesien hat die deutsche Bundesregierung bereits Ausbildungsmaßnahmen und polizeiliche Aufbauhilfe geleistet. Im Angesicht der neuen Herausforderungen braucht Tunesien jedoch auch in Zukunft Hilfestellung bei der Vorbereitung der Sicherheitskräfte auf ihre neuen Herausforderungen in einem demokratischen Umfeld. Dies gelingt am besten durch Wissenstransfer und Investitionen zwischen Partnerländern.
Die Terrorismusbekämpfung darf aber keine Entschuldigung für eine Rückkehr zu einem repressiven und autoritären Regime sein. Tunesien darf nicht in einen Polizeistaat zurückfallen – jeglicher Rückgang der Freiheiten wäre für terroristische Gruppierungen ein großer Sieg. Deshalb soll der Ausnahmezustand nur eine zeitlich eng begrenzte Maßnahme sein. Es gilt, die richtige Balance zwischen der Wahrung der erkämpften Freiheiten und der Sicherheit des Landes und seiner Besucher zu finden.
Tunesien ist ein kleines Land am Rande Europas. Dennoch hat es der Welt bereits vorgeführt, dass man mit vereintem Willen das scheinbar Unmögliche schaffen kann.
Die tunesische Revolution war unser ganz eigener "Mauerfall". Am 14. Januar 2011 wurde die Mauer der Angst in Tunesien niedergerissen. Trotz aller Herausforderungen werden wir diese hart erkämpften Freiheiten nicht aufgeben. Deshalb möchte ich mit den Worten eines deutschen Politiker enden: Völker dieser Welt, schaut auf Tunesien, und versteht, dass wir die wichtigen Probleme dieser Zeit nur gemeinsam lösen können!
Rachid al-Ghannouchi
© Qantara.de 2015