Den religiösen Kurs mitgestalten

Nach Jahrzehnten der säkularen Staatsführung wünschen sich viele Tunesier eine stärkere Einbindung des Islam in das gesellschaftliche und politische Leben. Die Islamgelehrten der Al-Zitouna-Universität könnten dabei eine Vermittlerrolle einnehmen. Hintergründe aus Tunis von Carolyn Wißing

Von Carolyn Wißing

Die große Bourguiba-Straße zieht sich mitten durch das Zentrum der Hauptstadt Tunesiens. Das Bild der Flaniermeile von Tunis hat sich seit 2011 verändert. Die Straßenhändler mit ihren illegalen Verkaufsständen haben die vermüllten Bürgersteige erobert.

Draußen an den Tischen der schicken kleinen Cafés sind Frauen mit Kopftuch nicht mehr die Ausnahme. Teile der Straße sind abgesperrt und Polizeipatrouillen überwachen gelegentlich den einstigen Schauplatz der Massendemonstrationen während der Revolution.

In Sichtweite der französischen Botschaft steht die Statue von Ibn Chaldun, dem wohl berühmtesten Absolventen der traditionsreichen tunesischen Al-Zitouna-Universität. Als hätte man ein Zeichen der Ausgrenzung setzen wollen, ist der Platz mit dem bronzenen Abbild Ibn Chalduns von Stacheldraht umzäunt.

Die Al-Zitouna-Universität, die als die älteste islamische Lehranstalt gilt, bildet seit dem 8. Jahrhundert Theologen aus. Der erste Präsident der Republik, Habib Bourguiba, leitete Ende der 1950er Jahre in Tunesien allerdings einen streng säkularen Kurs ein, den sein Nachfolger Ben Ali weiterverfolgte. Der Islam wurde aus dem öffentlichen Leben größtenteils verbannt und die Al-Zitouna-Universität konnte nur noch unter strenger staatlicher Aufsicht die islamische Ausbildung weiterführen.

Tunesiens Al-Zitouna-Universität; Foto: Carolyn Wißing
"Die Lehreinrichtung hat den Menschen Raum gegeben ihre Religion auszuleben": Die Al-Zitouna-Universität, die als die älteste islamische Lehranstalt gilt, bildet seit dem 8. Jahrhundert Theologen aus.

Für das religiöse Leben habe die Al-Zitouna dennoch eine große Rolle gespielt, erklärt Menno Preuschaft, Tunesien-Experte und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Münster. "Die Lehreinrichtung hat den Menschen Raum gegeben ihre Religion auszuleben."

Die "Ennahda" hat ihre Chance vertan

Seit der Revolution ist der Islam wieder sichtbarer Bestandteil im öffentlichen und politischen Leben Tunesiens. Kopftücher, traditionelle Gewänder und lange Bärte sind kein seltener Anblick mehr. Aus den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011 gingen die islamistischen Parteien und allen voran die "Ennahda" als stärkste Kraft hervor. Mittlerweile trauen jedoch viele Tunesier der "Ennahda" nicht mehr zu, einen religiösen Kurs bestimmen zu können, mit dem sich die Mehrheit der Muslime im Land identifizieren kann.

"Man sieht das islamistische Projekt der 'Ennahda' zunehmend skeptisch", sagt Preuschaft. Allerdings müsse man zwei Gruppierungen innerhalb der islamistischen Partei unterscheiden: Ein liberaler Flügel, der einen demokratischen Weg für Tunesien anstrebe und einen konservativen Flügel. "Eine zentrale Kritik ist in den letzten Monaten gewesen, dass die 'Ennahda' salafistischen Gruppen in die Hände spiele und versuche über den demokratischen Weg auf Dauer eine islamistische, nicht-demokratische Regierung zu etablieren."

Wer soll also dann den zukünftigen religiösen Kurs für Tunesien gestalten? Anders als in Ägypten, wo die Gelehrten der Al-Azhar bereits mehrfach aktiv an der aktuellen politischen Umgestaltung des Landes teilgenommen haben, blieben in Tunesien die Gelehrten der Al-Zitouna im Transformationsprozess bisher außen vor.Dabei kennt die Lehreinrichtung eine lange reformerische Tradition und eine verhältnismäßig liberale Auslegung des Islam. Menno Preuschaft sieht daher in der Integration der Al-Zitouna eine große Chance. "Religiöse Vertreter, die sich nicht primär als politische Akteure verstehen, könnten eine Rolle einnehmen, die zwischen den politischen Lagern vermittelnd wirkt."

Radikale Strömungen auch an der Al-Zitouna

Hardy Ostry; Foto: privat
"Wir haben einen deutlichen Rutsch in Richtung des konservativen Islam an der Al-Zitouna bemerkt", meint Hardy Ostry, Leiter des KAS-Büros in Tunis.

Der gleichen Meinung ist auch Imed Shili, Professor an der Theologischen Fakultät der Al-Zitouna-Universität. "Mit der aktuellen Situation sind wir sehr unzufrieden", erklärt Shili. "Sicherlich würden wir gern die zukünftige Politik und Verfassung des Landes mitgestalten. Wir sind schließlich ein Teil dieser Nation."

Doch auch die Al-Zitouna-Universität hat neuerdings mit Politisierung und Radikalisierungstendenzen zu kämpfen. Bis vor wenigen Jahren hat die Konrad-Adenauer Stiftung (KAS) mit der Universität kooperiert und gemeinsame Projekte realisiert. Mittlerweile ist die Zusammenarbeit abgebrochen.

"Wir haben einen deutlichen Rutsch in Richtung des konservativen Islam an der Al-Zitouna bemerkt", erläutert Hardy Ostry, Leiter des KAS-Büros in Tunis. "Das Bildungsministerium entscheidet über die Besetzung von Professorenstellen. Die 'Ennahda' hat dort ihren Einfluss spielen lassen."

Imed Shili beteuert zwar die politische Unabhängigkeit der Universität, beobachtet allerdings auch mit Sorge die aktuelle Entwicklung. „Einige wenige Professoren und eine größere Gruppe von Studenten unterstützen eine konservative und radikale Auslegung des Islam“, berichtet der Professor der Al-Zitouna. "Ihnen gehört aber nicht die Zukunft."

Eine neue Technokraten-Regierung

Wie Tunesien die zukünftige Rolle des Islams ausgestaltet, könnte zum Vorbild für andere Länder der Region werden. Das Land gilt als der große Hoffnungsträger unter den Ländern des Arabischen Frühlings. Nach der Revolution hatte Tunesien einen ehrgeizigen Reformprozess eingeleitet und schnell erste Erfolge erzielt. Doch dann geriet die politische Umgestaltung ins Stocken. Die Attentate auf zwei Oppositionspolitiker im Februar und Juli 2013 führten Tunesien schließlich in eine politische Krise.

Ende Oktober trat die von der "Ennahda" geführte Regierung schließlich zurück. Seit dem 14.12.2013 hat Tunesien nach mehr als zwei Monaten Verhandlungen einen neuen Übergangs-Premierminister. Der parteilose Mehdi Jomaa soll den politischen Stillstand im Land beenden und innerhalb der kommenden Wochen ein Kabinett aus unabhängigen Experten bilden. In einer solchen Technokratenregierung ergibt sich möglicherweise eine Chance für die Al-Zitouna-Gelehrten die Zukunft Tunesiens mitzugestalten.

Carolyn Wißing

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de