Bedrohte Freiheit
Freitag, der 30. März 2013: Der große Hörsaal der naturwissenschaftlichen Fakultät der Campus-Universität El Manar in Tunis ist voll besetzt. Rund zweihundert Hochschullehrer und Wissenschaftler aus ganz Tunesien und aus dem Ausland haben sich anlässlich des Weltsozialforums versammelt.
Einziges Thema auf der Tagesordnung: Die Freiheit der Forschung und Lehre in Tunesien. Die Akademiker wollen aufrütteln: Sie, die Anfang 2011 teilweise aktiv in den Sturz des alten Regimes mitgewirkt haben, sehen nun die gerade erst mühsam erkämpfte Meinungsfreiheit und die Autonomie der tunesischen Hochschulen in Gefahr.
Habib Mellakh, Professor für französische Literatur an der Universität La Manouba ist Mitglied der gewerkschaftsnahen "Beobachtungsstelle für die Einhaltung der akademischen Freiheiten" in Tunesien.
Das Gremium hatte im März seinen jüngsten Bericht vorgelegt. Darin ist dokumentiert, dass die Attacken religiöser Extremisten an tunesischen Universitäten System haben und keine Einzelfälle sind. An der Universität La Manouba seien die Täter namentlich bekannt, sagt Habib Mellakh: "Es handelt sich um eine bewusst inszenierte Kampagne gegen die Autonomie der Universitäten und gegen die öffentlichen Freiheiten."
Diese Kampagne, so Mellakh, laufe mit stillschweigender Zustimmung der regierenden Ennahda-Partei: "Sie betrachten die Salafisten als ihre natürlichen Verbündeten innerhalb der islamischen Bewegung."
Islamistischer Gesinnungsterror
Habib Mellakh hat in Tunesien jüngst ein neues Buch vorgelegt. Das fast dreihundert Seiten umfassende, beim angesehenen tunesischen Wissenschaftsverlag CERES erschienene Werk trägt den Titel "Chroniken aus Manoubistan". Habib Mellakh beschreibt darin exemplarisch und detailliert den Gesinnungsterror, den Salafisten und Islamisten seit fast zwei Jahren gegen Wissenschaftler und Studierende an der Universität La Manouba bei Tunis ausüben.
Amel Grami, Professorin für arabische Sprache und Geistesgeschichte an der Universität La Manouba, war eine der ersten, die die Salafisten im Herbst 2011 aufs Korn nahmen. Die religiösen Eiferer beschimpften sie als „Kaafira“ (Ungläubige), weil sie im Unterricht keinen Schleier trug und weil sie keine voll verschleierten Studentinnen in ihren Kursen zuließ.
Die Salafisten bezichtigten sie unter anderem der Mission und gingen mit Stasi-Methoden vor, um zu erfahren, was in den Kursen der angeblich gottlosen Professorin gesagt wurde. "Ich habe ein Seminar über vergleichende Religionswissenschaft unterrichtet. Die Salafisten haben behauptet, ich wollte die Studierenden zum Christentum oder zum Judentum bekehren", erinnert sich Amel Grami. "Sie fragten auch meine Studierenden aus, was im Seminar diskutiert worden sei."
Angriffe auf Kulturveranstaltungen, Belagerung von Hörsälen
Die Männer in wahhabitisch anmutenden Langhemden, die teilweise gar nicht an der Universität eingeschrieben waren, demonstrierten für das "Menschenrecht" der Studentinnen auf Vollverschleierung und die damit verbundene "kulturelle Identität".
Sie attackierten Kulturveranstaltungen, wie die Teilnahme von Studierenden an der weltweiten Tanzaktion "Harlem Shake". Eines ihrer erklärten Ziele war, in Hörsälen und universitären Restaurants getrennte Bereiche für Frauen durchzusetzen. Teilweise wurden männliche Studierende mit Gewalt daran gehindert, Hörsäle oder Mensen zu betreten.
An der philosophischen Fakultät La Manouba belagerten Salafisten wochenlang die Eingänge zu Hörsaalgebäuden und Sprechzimmern. Der Dekan Habib Kazdaghli, Professor für Geschichte, wurde am Betreten seines Büros gehindert. Da die Polizei nur zögerlich einschritt, um die illegalen Sit-Ins zu beenden, traten zahlreiche Professoren der Universität La Manouba in einen Streik. Zeitweise musste der Studienbetrieb an der philosophischen Fakultät aus Sicherheitsgründen komplett unterbrochen werden.
Nachdem die Leitung Hausverbote ausgesprochen hatte, stürmten am 6. März 2012 zwei voll verschleierte Studentinnen das Büro des Dekans und schlugen das Mobiliar kurz und klein. Doch nicht die Studentinnen wurden danach vor Gericht gestellt, sondern der Dekan: Habib Kazdaghli soll eine der beiden Studentinnen geohrfeigt haben.
Komplizen der Fundamentalisten
Habib Kazdaghli wies die Vorwürfe vom ersten Tag an entschieden zurück. Doch es half ihm nichts. Seit dem 5. Juli 2012 steht der noch immer amtierende Dekan vor Gericht: Ein Urteil ist noch nicht gesprochen. Kazdaghli verweist auf das interne Reglement der Universität La Manouba vom Herbst 2011, demzufolge Lehrende und Studierende sich gegenseitig sehen können müssen: "Die zuständigen Behörden helfen uns nicht, dieses Reglement durchzusetzen", kritisiert Kazdaghli. "Sie machen sich stattdessen zu Komplizen der Fundamentalisten."
La Manouba ist kein Einzelfall: Radikale Islamisten versuchen derzeit an mehreren Universitäten Tunesiens, das durchzusetzen, was sie für "den wahren Islam" halten. An der Universität Monastir errangen sie einen Teilsieg: Dort wurde laut dem Bericht der gewerkschaftlichen Beobachtungsstelle in der Mensa ein eigener Bereich für Frauen geschaffen.
Liberale und säkulare Hochschullehrer vermuten hinter solchen Aktionen eine Zermürbungstaktik. Sie gehen davon aus, dass die regierende Ennahda-Partei in der künftigen tunesischen Verfassung die Meinungsfreiheit und Rechte der Universitäten beschneiden will. Habib Kazdaghli vermutet außerdem, dass die Ennahda-Regierung plant, die führenden Positionen an den tunesischen Hochschulen in absehbarer Zeit mit politisch genehmem Personal zu besetzen.
"Die islamistische Regierungspartei weiß, dass sie die Hochschulen nicht im Griff hat. Die Polizei, die Journalisten, die Armee – die Eliten sind politisch nicht auf der Linie der Islamisten. Deshalb muss man den Druck aufrechterhalten. Und das macht die Ennahda-Partei sehr geschickt."
Der offensichtlich politisch motivierte Prozess gegen den Historiker Habib Kazdaghli hat weltweit eine Welle der Solidarität ausgelöst. Auch zahlreiche Akademiker deutscher Universitäten haben an die tunesische Regierung appelliert, die Freiheit der Universitäten zu garantieren und Bedingungen zu garantieren, die ein störungsfreies wissenschaftliches Lehren und Forschen ermöglichen.
Habib Kazdaghli ist frustriert, weil ihm die ständigen Provokationen der Salafisten Zeit rauben – Zeit, die er braucht, um seine eigentlichen Aufgaben als Professor und als Dekan zu erfüllen: "Von den offiziell 900.000 jungen Erwerbslosen in Tunesien hat jeder Dritte einen Hochschulabschluss", sagt Kazdaghli. "Wir müssten alles tun, um die Ausbildung und die Jobchancen dieser Studierenden zu verbessern. Stattdessen vergeuden wir unsere kostbare Energie mit solch nutzlosen Auseinandersetzungen."
Der nächste Gerichtstermin im Prozess gegen Habib Kazdaghli ist voraussichtlich am 18. April 2013. Beobachter und Anwälte vermuten, dass der Professor mangels stichhaltiger Beweise freigesprochen wird. Doch der Kampf um die Freiheit der tunesischen Hochschulen ist damit noch längst nicht gewonnen.
Martina Sabra
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de