"Eines Tages werden wir frei sein"

"Ich engagiere mich seit 2005 in der friedlichen Intifada der Freiheit und Unabhängigkeit. Aber was ich tue, ist nichts Besonderes, sondern das, was die meisten sahrauischen Frauen tun: Sich der Unterdrückung und Besatzung gewaltfrei zu widersetzen."
"Ich engagiere mich seit 2005 in der friedlichen Intifada der Freiheit und Unabhängigkeit. Aber was ich tue, ist nichts Besonderes, sondern das, was die meisten sahrauischen Frauen tun: Sich der Unterdrückung und Besatzung gewaltfrei zu widersetzen."

Die 41-Jährige Sultana Khaya kämpft seit vielen Jahren friedlich gegen die marokkanische Besetzung der Westsahara. Wegen ihres Engagements für die Selbstbestimmung des sahrauischen Volkes wurde sie misshandelt und vergewaltigt. Seit einem Jahr steht sie unter Hausarrest. Interview von Elisa Rheinheimer

Von Elisa Rheinheimer

Frau Khaya, seit November 2020 stehen Sie unter Hausarrest und werden von marokkanischen Sicherheitskräften brutal daran gehindert, das Haus zu verlassen. Haben Sie dafür je eine Begründung genannt bekommen?



Sultana Khaya: Nein. Heute ist Tag 487, an dem ich das Haus in Boujdour, in dem ich mit meiner Mutter und meiner Schwester lebe, nicht verlassen darf. Gegenüber Menschenrechtsorganisationen behauptet die marokkanische Regierung, dass ich nicht unter Hausarrest sei. Aber wenn ich versuche, rauszugehen, werde ich geschlagen. In den ersten Monaten waren Männer in Militärkleidung um das Haus herum postiert, aber seit Februar letzten Jahres sind es Polizisten in Zivil. Alle zwölf Stunden ist Schichtwechsel. Wenn Menschen uns besuchen wollten, wurden sie daran gehindert, das Haus zu betreten. Das hat sich erst am 16. März geändert, da ist es einer Gruppe US-amerikanischer Menschenrechtlerinnen gelungen, sich hier Zutritt zu verschaffen.

Was macht es mit Ihnen, ständig eingesperrt zu sein? Haben Sie Routinen entwickelt, um diesen Zustand auszuhalten?



Khaya: Jeden Tag zwischen 12.30 und 14 Uhr veranstalte ich mit meiner Schwester eine "Demonstration“ auf dem Dach unseres Hauses. Wir schwenken dort eine Viertelstunde lang die sahrauische Flagge und setzen somit ein Zeichen für die Selbstbestimmung. Egal ob es regnet oder die Sonne scheint – wir sind dort oben. Das filmen wir und senden es dann in die Welt hinaus. Wir wollen mit dieser Aktion zeigen, dass der friedliche sahrauische Widerstand weitergeht. Ich tue das in Vertretung für alle sahrauischen Frauen.

Wie reagieren die marokkanischen Sicherheitskräfte?



Khaya: Die Marokkaner lassen das natürlich nicht einfach so geschehen. Für sie ist es ein Skandal, wenn in den besetzten Gebieten, die sie als ihr Land ansehen, unsere Flagge weht. Sie kommen früh morgens oder spät nachts. Dann schlagen sie die Tür ein, um ihre Stärke zu demonstrieren, fesseln uns, begrapschen uns. Im Dezember haben sie mir einen getränkten Wattebausch auf das Gesicht gehalten und ich habe das Bewusstsein verloren. Und das letzte Mal haben sie mir etwas injiziert mit einer Spritze; ich weiß nicht, was für eine Substanz das war. Das Schlimmste ist der Moment kurz bevor sie da sind: Die Angst in dem Augenblick, in dem ich höre, dass sie die Tür einschlagen.

Algerien. Flüchtlingslager der Sahraouis; Foto: DW/Hugo Flotat-Talon
Ein Leben ohne Perspektive: Mehr als 170.000 Sahrauis leben in fünf Flüchtlingslagern im Südwesten Algeriens, die von der Befreiungsorganisation Polisario verwaltet werden. Es sind die am längsten bestehenden Flüchtlingslager auf dem afrikanischen Kontinent. Außer Sand und Staub gibt es hier nicht viel. In den Lagern hoffen die Menschen auf eine bessere Zukunft und die Unabhängigkeit der Westsahara. Doch nach so vielen Jahren des Wartens haben sie das Gefühl, dass die Welt sie vergessen hat.

Tägliche Schikanen der marokkanischen Bewacher

Wie gestalten Sie unter diesen Bedingungen Ihren Alltag?

Khaya: Seit April 2021 haben wir keine oder nur sehr eingeschränkte Elektrizität. Wir nutzen einen Campingkocher, Gas, und ein Ladegerät für das Handy, das eine Weile ohne Strom auskommt. Dass sie uns den Strom abgedreht haben, bedeutet auch, dass der Kühlschrank nicht funktioniert. Deshalb muss meine 86-jährige Mutter – die als Einzige von uns Dreien ein Mal am Tag das Haus verlassen darf – täglich einkaufen gehen.

Sie bringt dann auch zehn Liter Wasser mit. Für uns drei Frauen ist das nicht viel zum Kochen und Waschen. Aber mehr könnte sie ohnehin nicht tragen. An Medikamente zu kommen, ist sehr schwierig. Wenn überhaupt gelingt ihr das nur unter der Hand über Bekannte. Und es darf bei Kontrollen nicht auffallen, sonst werden sie ihr abgenommen. Sie nehmen uns auch die letzte Paracetamol weg.

Sie sind Präsidentin der Liga für die Verteidigung der Menschenrechte. Wie sah Ihr Engagement aus, bevor Sie eingesperrt wurden?



Khaya: Ich engagiere mich seit 2005 in der friedlichen Intifada für Freiheit und Unabhängigkeit. Aber was ich tue, ist nichts Besonderes, sondern das, was die meisten sahrauischen Frauen tun: Sich der Unterdrückung und Besatzung gewaltfrei zu widersetzen. Wir werden gefoltert, aber wir geben nicht auf. Weil ich aus meiner Heimat vertrieben wurde und es in den besetzten Gebieten keine Hochschulen gibt, habe ich mich entschieden, nach Marokko zu gehen, um dort Französisch zu studieren.

Dort habe ich mich an einer Demo für die Westsahara an der Uni beteiligt – es gibt ja auch Marokkaner, die auf unserer Seite sind. Nicht viele, die meisten Marokkaner interessiert das nicht oder sie haben Angst vor ihrem eigenen Regime. Aber ein paar gibt es, auch eine linke marokkanische Partei unterstützt das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis. Bei dieser Demonstration wurde ich von einem Mann so brutal angegriffen, dass ich mein linkes Auge verlor.

Aber sie haben nicht den Aggressor vor Gericht gestellt, der mir mein Auge geraubt hat, sondern mich ins Gefängnis geworfen! Acht Monate lang. Ich will nicht davon reden, wie oft mir die Rippen gebrochen wurden. Einige Kameraden waren ein Jahr inhaftiert, und zwei der marokkanischen Mitdemonstranten sind gestorben.

Haben Sie je darüber nachgedacht, Ihre Heimat zu verlassen und Asyl zu beantragen?



Khaya: Das würde ich nie machen. Ich leide viel, aber nicht mehr, als die sahrauischen Frauen seit vierzig Jahren. Ich habe nicht vor, das Land zu verlassen. Ich will hier leben und hier sterben. Ich war in einem Krankenhaus in Barcelona, wo ich ein Ersatz-Auge bekommen habe, und hatte in Spanien eine Aufenthaltserlaubnis. Aber ich habe mich im November 2020 entschieden, zurückzugehen in die besetzten Gebiete. Einen Tag später haben sie mich unter Hausarrest gestellt. Die Marokkaner haben die Hoffnung, mich zum Schweigen zu bringen. Aber sie haben das Gegenteil bewirkt.

Fischmarkt in El Aiun; Foto: Ane Nordentoft/Transterra Media
Fischmarkt in El Aiun, der größten Stadt im von Marokko verwalteten Territorium Westsahara. Die reichen Fischgründe vor der Atlantikküste sind mit ein Grund für die marokkanischen Ansprüche auf das Territorium. Laut Verfassung der exilierten sahrauischen Unabhängigkeitsbewegung Frente Polisario soll El Aiún nach einem Referendum Hauptstadt der Demokratischen Arabischen Republik Sahara werden. "Die Sahrauis haben viel Geduld gezeigt,“ sagt Sultana Khaya. "Ihr Vorrat an Geduld ist noch nicht erschöpft. Es lohnt sich, weiter friedlich für das Land zu kämpfen. Trotz des Leids und der Schwierigkeiten sehe ich als Frau in den besetzten Gebieten den friedlichen Weg als das beste Mittel an.“

"Zu anderen Zeiten wäre ich längst tot"

Wie engagieren Sie sich nun trotz des Hausarrests?

Khaya: Dank der neuen Medien und Kommunikationssysteme bin ich mit meinen Mitstreiterinnen vernetzt. Trotz aller technischen Störungen – etwa, wenn mir die Sicherheitskräfte Laptop und Handy wegnehmen – klappt das einigermaßen. Mir ist bewusst, dass die Marokkaner immer mithören. Auch jetzt während dieses Interviews sind wir vermutlich nicht allein. Aber über das Internet kann ich mit der Welt da draußen in Kontakt bleiben.



Das ist auch eine Schutzfunktion für mich. Zu anderen Zeiten wäre ich längst tot. Anfang Dezember kamen sie und haben die Tür zum Dach zugeschweißt, damit wir nicht mehr raus können für unsere tägliche Flaggen-Aktion. "Jetzt ist es vorbei mit dem Dach“, haben sie zu mir gesagt. Aber wir haben mit Steinen ein kleines Loch in die Wand geschlagen, durch das wir nach draußen klettern. Nein, es ist nicht vorbei und wird nicht vorbei sein.



Wir lassen uns nicht die Luft zum Atmen nehmen. Die Vergewaltigungen, die Unterdrückung – sie sind keine persönliche Bösartigkeit Einzelner, sondern politisches Kalkül der Besatzungsmacht. Ich glaube nicht, dass die Männer, die hier einbrechen, persönlich gegen mich sind, sondern mir das antun, weil ich eine Sahraui bin. Sie tun das, um uns alle zu erniedrigen.

Jahrzehntelang haben die Sahrauis friedlich gegen die Besatzung protestiert. Ändert sich das jetzt?

Khaya: Die Sahrauis haben viel Geduld gezeigt. Ihr Vorrat an Geduld ist noch nicht erschöpft. Es lohnt sich, weiter friedlich für das Land zu kämpfen. Trotz des Leids und der Schwierigkeiten sehe ich als Frau in den besetzten Gebieten den friedlichen Weg als das beste Mittel an. Aber die Sahrauis auf der anderen Seite, im algerischen Exil, haben sich entschieden, einen bewaffneten Kampf zu beginnen.

Von der Welt im Stich gelassen

Sie spielen an auf die Beendigung des Waffenstillstands durch die Polisario, die sahrauische Befreiungsbewegung mit Sitz im algerischen Tindouf, im November 2020...

Khaya: Ja, die Polisario hat gezeigt, dass Marokko und die Welt nicht einfach so weitermachen können. Die Freiheitskämpfer sind noch da – und sie sind bereit, zu kämpfen. Auch das ist verständlich, schließlich haben vierzig Jahre des friedlichen Widerstands nichts gebracht. Das Referendum, das uns Sahrauis von den UN versprochen worden ist, hat bis heute nicht stattgefunden. Was wir brauchen, ist internationale Aufmerksamkeit.



Die Vereinten Nationen müssen dafür sorgen, dass die Menschenrechte hier beachtet werden – die werden tagtäglich mit Füßen getreten. Wenn die internationale Gemeinschaft dem weiterhin tatenlos zusieht, weiß ich nicht, wie lange es noch friedlich weiter gehen wird. Wir fühlen uns von der Welt im Stich gelassen. Was ich von den UN und der internationalen Gemeinschaft fordere, ist nicht viel: Erkennen Sie an, dass wir unter einer Besatzungsmacht leben. Sorgen Sie dafür, dass unsere Menschenrechte beachtet werden und dass wir in Würde leben können.

Schwelt seit Jahrzehnten: der Westsaharakonflikt. Blick auf ein Flüchtlingslager der Sahrauis in Algerien; Foto: DW/Hugo Flotat-Talon
Flüchtlingslager Awserd in Algerien: Hier leben rund 50.000 Menschen in Zelten, Lehmbaracken und Backsteinhäusern. Die algerische Provinzhauptstadt Tinduf ist 40 Kilometer entfernt. Auch das Hauptquartier der Befreiungsfront Frente Polisario liegt in der Nähe, die seit Jahrzehnten für die Unabhängigkeit der Westsahara kämpft. 1975 hatte Marokko die ehemalige spanische Kolonie annektiert. Danach lieferten sich beide Seiten einen blutigen Bürgerkrieg. Am vergangenen 13. Novemberkündigte die Polisario einen fast 30 Jahre währenden Waffenstillstand auf. Zuvor hatte Marokko zivile Proteste an einem Grenzübergang zwischen der besetzten Westsahara und Mauretanien mit Gewalt aufgelöst. Seither greift die Armee der Polisario immer wieder marokkanische Stellungen an.

Die neue deutsche Bundesregierung bemüht sich um eine Normalisierung der Beziehungen zu Marokko. Wenn Sie die deutsche Außenministerin treffen könnten, was würden Sie ihr sagen?

Khaya: Ich würde ihr sagen: Bitte beteiligen Sie sich nicht an den Verbrechen der Besatzung, an der illegalen Ausbeutung unserer Bodenschätze und den Menschenrechtsverletzungen. Normale Beziehungen zu Marokko sind gut – aber nicht auf unseren Kosten. Unsere Forderung nach Selbstbestimmung ist legitim. Entweder Deutschland steht aufseiten des Rechts – und das ist auf unserer Seite! – oder Sie halten sich raus, aber unterstützen Sie nicht Marokko.

Es gibt einen neuen persönlichen Gesandten der Vereinten Nationen für die Westsahara, Steffan de Mistura. Sind Sie optimistisch, dass er etwas bewegen kann?

Khaya: Er wird sich bestimmt bemühen, wie alle seine Vorgänger auch. Aber ob er etwas bewirken kann, ist fraglich. Minurso, die Mission der Vereinten Nationen zur Vorbereitung eines Referendums über den Status der Westsahara, ist seit dreißig Jahren da – aber sie schützt uns nicht. Sie ist Teil des Problems, nicht der Lösung. Die Lösung liegt nicht bei einer Person wie De Mistura, sondern darin, dass international Druck auf das marokkanische Besatzungsregime ausgeübt wird. Doch die jüngste Entscheidung Spaniens, sich auf die Seite Marokkos zu schlagen, zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist.

"Spanien hat uns an Marokko und Mauretanien verkauft"

Spanien hat am 18. März eine radikale Kehrtwende seiner bisherigen Westsahara-Politik vollzogen und den Vorschlag Marokkos aufgegriffen, die Westsahara könne eine autonome Provinz innerhalb Marokkos werden…

Khaya: Die neue Position der spanischen Regierung hat mich nicht so sehr überrascht, aber doch enttäuscht. Am 14. November 1975 hat Spanien uns und unser Land an Marokko und Mauretanien illegal verkauft und uns betrogen. Und jetzt, 2022, wiederholt eine spanische Regierung das. Damit sind auch viele Spanier nicht einverstanden. Dieser Kurswechsel Spaniens tut mir und vielen Saharauis weh. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass weder Spanien noch die USA oder irgendein anderes Land das Recht hat, über uns zu entscheiden. Unser Schicksal bestimmen wir!

Was gibt Ihnen die Kraft und Hoffnung, um sich weiter zu engagieren?

Khaya: Die nächste Generation soll nicht mehr so leben müssen wie ich, konfrontiert mit Folter, Rassismus, ungerechter Behandlung. Das muss ein Ende haben. Dafür kämpfe ich – jeden einzelnen Tag. Und sahrauische Frauen sind sehr geduldig und hartnäckig. Das habe ich wohl schon mit der Muttermilch aufgenommen. Selbst meine 86-jährige Mutter kämpft noch. Wir treten für eine gerechte Sache ein. Diese Unterdrückung, die wir erfahren, ist nicht richtig. Ich bin sicher, dass die Westsahara eines Tages frei sein wird. Heute, morgen oder in 100 Jahren wird das Recht siegen. Ich weiß nicht, ob ich das selbst erleben werde, aber eines Tages wird es soweit sein, und der Gedanke daran erfüllt mich mit Freude.

Das Gespräch führte Elisa Rheinheimer.

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